Naturmagie
Die Naturmagie, in alten Texten auch das Geanische Echo genannt, ist die vielleicht ursprünglichste und fundamentalste Magieformen der Sterblichen. Sie ist keine erlernte Wissenschaft oder eine von Göttern verliehene Gnade, sondern die verborgene, immanente Kraft, die in der irdischen Welt Essentia selbst schlummert. Sie ist das unsichtbare Band, das alle sterblichen Geschöpfe miteinander verbindet, die geheime Melodie, die im Herzen eines jeden Steins, im Wesen jedes wilden Geschöpfes und in jeder einzelnen lebenden Zelle schwingt - ein ewig flüsterndes Potential, das auf einen Funken wartet, um geweckt zu werden.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Mythos
- 2 Geschichte
- 3 Die exklusive Gabe: Die Seltenheit der Naturmagie
- 4 Methodik und Wirkweise
- 4.1 Das Lied der Welt: Die Allgegenwart des Echos
- 4.2 Das Prinzip der Immanenz: Die Magie Essentias
- 4.3 Die immanenten Essenzen
- 4.4 Gefühl als Auslöser
- 5 Varianten der Naturmagie
Mythos
Die Naturmagie ist keine erschaffene oder erlernte Kraft im eigentlichen Sinne. Sie ist ein fundamentales Prinzip von Essentia, so alt wie die Welt selbst, ein Erbe aus der mythischen Dämmerung der Zeit. Ihr Ursprung liegt in einem mythologischen Akt reiner, unwillkürlicher Zuneigung, aus dem eine ewige Resonanz zwischen der Weltenseele und ihren Geschöpfen entstand. Diese Resonanz ist das Geanische Echo.
Geas Zuneigung: Die Geburt der Magie im Materiellen
Im Goldenen Zeitalter, einer mythischen Ära des unendlichen Überflusses, als Essentia von Leben überquoll, war Gea, die Weltenseele, tief berührt von der Vielfalt und Schönheit der Geschöpfe, die sie geboren hatte. Sie sah das ungestüme Wachsen der Wälder und das Treiben der wilden Kreaturen und Tiere. Doch keine dieser Schöpfungen bewegte ihr Herz so sehr wie die Alten Völker. Sie entstanden in dieser Zeit der Fülle als Wesen von einer so vollkommenen Anmut und Harmonie, einer so tiefen Verbindung zu ihrer Umgebung, dass Gea große Sympathie für diese besonderen Kinder empfand. Diese Zuneigung war kein bewusster Segen oder eine willentlich verliehene Gabe. Es war eine überwältigende, mütterliche Liebe, eine Welle purer Empathie, die so stark war, dass sie eine tiefe emotionale Resonanz zwischen der Weltenseele und den Seelen ihrer auserwählten Kinder erzeugte. Dieses Gefühl, reiner und urtümlicher als jeder Zauber, floss von Gea in das Blut der Alten Völker und weckte dort ein Echo – das sogenannte Geanische Echo – ihrer eigenen schöpferischen Macht. In ihren Adern, in ihrem innersten Wesen, entstand die erste magische Resonanz mit den immanenten Essenzen – die Geburtsstunde der Naturmagie unter den Sterblichen. So wurde die angeborene Magie nicht verliehen, sondern geboren aus der reinen, unwillkürlichen Liebe einer Göttin zu den vollkommensten ihrer Geschöpfe.
Geschichte
Obwohl das Geanische Echo als die urtümliche Magie Geas in allem Materiellen schlummert, ist die Fähigkeit, dieses Lied zu hören und mitzusingen, ein seltenes und kostbares Erbe. Das Geanische Blut, die angeborene Resonanz zur Naturmagie, wurde den Jungen Völkern nicht als Geschenk zuteil, sondern floss auf zwei fundamental unterschiedlichen und von Tragödien gezeichneten Wegen in ihre Adern. Die Geschichte seiner Verbreitung ist eine Geschichte von Gewalt und Kalkül, die den magischen Graben zwischen dem wilden Norden und dem geordneten Süden Eborias bis heute definiert.
Die blutige Saat des Nordens: Ein Erbe der Gewalt
Der Ursprung der meisten Geanisten - also der Erben des Geanischen Echos - in den barbarischen Völkern des Nordens ist in einer der dunkelsten Epochen der Geschichte verwurzelt: der chaotischen Ära der "Welke". Nachdem die Umbrin aus der Sklaverei der Pazumer befreit waren, fiel ihr von einem Schattenfluch zerrissener Geist einer ziellosen Wut anheim. Als marodierende Horden fielen sie über die alten Elbenreiche her und hinterließen eine Spur der Vernichtung. In diesem Akt blinder Zerstörung kam es zu unzähligen Gräueltaten, bei denen die umbrinischen Krieger zahllose Elbinnen vergewaltigten.
Die Kinder, die aus dieser brutalen Verbindung hervorgingen, trugen das reine Geanische Blut der Elben in sich, wurden von diesen jedoch als Zeichen der Schande und der Befleckung ihres reinen Erbes verstoßen und in der Wildnis ausgesetzt. Viele dieser Halbblut-Kinder überlebten jedoch, wurden von den umbrinischen Sippen gefunden und wie ihre eigenen aufgezogen. Durch diesen gewaltsamen, aber weitreichenden Akt der Vermischung verteilte sich das Geanische Blut breit und unkontrolliert in den Genen der nördlichen Stämme. Aus diesem Grund ist die angeborene Gabe im Norden zwar immer noch selten, aber ein bekanntes und akzeptiertes Phänomen, das oft in den Traditionen der Druiden und Schamanen einen Platz findet.
Das Erbe des Nordens ist somit ein wildes, ungezähmtes und weit verstreutes Echo, geboren aus Schmerz und Überleben.
Das elitäre Erbe des Südens: Ein Erbe des Designs
Im Süden ist die Geschichte des Geanischen Blutes weitaus komplexer und von Isolation, strategischem Kalkül und einer tragischen Zerstreuung geprägt. Nach dem Untergang ihrer Heimatinsel Hybra und der späteren Zerstörung ihres Exils in Pelagon floh der Großteil der überlebenden, reinblütigen Hybraner in eine jahrhundertelange Isolation. Erst als der Held Anasces, ein Nachfahre ihrer alten Könige, einem Orakel folgte, um die Ehre seines Volkes wiederherzustellen, betraten sie erneut die Bühne der Welt.
In Eturum vermischten sich Anasces und seine reinblütigen hybranischen Gefolgsleute gezielt und ausschließlich mit dem Adel der lokalen eturischen Stämme – Nachfahren der Umbrin –, um eine neue, überlegene Führungsschicht zu erschaffen: die thyrnische Aristokratie. Anders als im Norden war dies keine zufällige, sondern eine geplante und streng begrenzte Blutmischung, die darauf abzielte, die Macht zu konzentrieren.
Eine kleine Gruppe von Hybranern hatte sich zudem nach der Zerstörung Pelagons in den Bergen Argosiens mit der dortigen Oberschicht vermischt, wodurch die argosische Aristokratie entstand, deren Erbe jedoch als älter und "verwässerter" gilt. Aufgrund dieser elitären und streng kontrollierten Weitergabe ist das Geanische Blut im Süden fast ausschließlich ein Phänomen dieser einen, herrschenden Kaste geblieben.
Das Erbe des Südens ist somit ein konzentriertes, kultiviertes und gehütetes Echo, das ebenso sehr ein Werkzeug der Macht wie ein Symbol der Abgrenzung ist.
Die exklusive Gabe: Die Seltenheit der Naturmagie
Die Naturmagie, das sogenannte Geanische Echo, ist die fundamentalste und ursprünglichste Kraft der immanenten Welt Essentia. Sie ist der Atem der Weltenseele Gea, der in allem Materiellen schlummert. Doch gerade diese allgegenwärtige Magie ist für die heute dominanten Jungen Völker die seltenste, fremdartigste und am meisten gefürchtete aller Gaben. Ihre Exklusivität ergibt sich aus einem unumstößlichen kosmischen Gesetz:
Naturmagie kann nicht erlernt werden, sie kann nur vererbt werden.
Das verlorene Erbe: Der Unterschied der Völker
Für die Alten Völker, die im Goldenen Zeitalter als vollkommene Geschöpfe entstanden, war die Verbindung zum Geanischen Echo eine Selbstverständlichkeit. Jeder Hybraner, jeder Elb besaß von Geburt an das Geanische Blut, die Fähigkeit, mit der Welt in Resonanz zu treten. Die Naturmagie war für sie wie ein sechster Sinn, so natürlich wie das Atmen, ein integraler Teil ihres Wesens, der ihr gesamtes Leben und ihre Kultur durchdrang.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen die Jungen Völker, die Nachfahren der Umbrin. Ihr Blut ist von Natur aus "still" – es besitzt nicht die angeborene Resonanz, um das Lied der Welt zu hören oder gar mitzusingen. Ein Mensch kann sein Leben lang meditieren, beten oder studieren; er wird niemals aus eigener Kraft einen Funken Naturmagie wirken können, wenn das Erbe nicht in seinen Adern schlummert.
Diese fundamentale Trennung macht die Naturmagie zur einzigen Magieform, die für die Alten Völker völlig normal, für die Jungen Völker hingegen höchst selten, befremdlich und zutiefst umstritten ist.
Die Furcht vor dem Ungezähmten: Das Risiko des Geanisten
Ein bei den Jungen Völkern geborener Geanist ist daher eine lebende Anomalie, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, dessen Erscheinen die gesellschaftliche Ordnung und die Machtverhältnisse in Frage stellt. Seine Existenz wird nicht als Wunder, sondern eher als unkalkulierbares Risiko für die Gemeinschaft betrachtet.
Der Grund für diese tiefsitzende Furcht liegt in der ungezähmten Natur seiner Gabe. Während die Arkanmagie durch die kalte Logik des Intellekts und die Magie der Ritualisten durch göttliche Dogmen und Rituale gezügelt wird, ist die Naturmagie des menschlichen Geanisten untrennbar mit den Stürmen seiner Seele verbunden. Sein zerrissenes Erbe, die Mischung aus dem reinen Blut der Alten Völker und der emotionalen Instabilität der Umbrin, macht ihn zu einer wandelnden Naturgewalt. Ein unkontrollierter Wutausbruch kann Felder in Brand setzen, ein Moment der Verzweiflung kann alle Mitmenschen mit tiefem Leid erfüllen und im verzweifelten Kampf können brutale Bärenkräfte entfesselt werden. Er ist eine unberechenbare Variable in jeder zivilisierten Welt, die nach Ordnung und Sicherheit strebt.
Der Umgang mit der Gabe: Kontrolle oder Harmonie
Aus dieser Furcht heraus haben die verschiedenen Kulturen der Jungen Völker unterschiedliche, aber gleichermaßen drastische Methoden entwickelt, um mit der Gefahr eines geborenen Geanisten umzugehen:
- Im zivilisierten Süden, allen voran im Thyrnischen Weltreich, herrscht die Doktrin der Kontrolle. Ein Geanist aus dem einfachen Volk wird als unheilbare Krankheit betrachtet und bei Entdeckung sofort eliminiert, um die Gesellschaft zu schützen. Nur in der Aristokratie wird die Gabe als wertvolles Erbe anerkannt, aber umgehend durch Isolation, Umerziehung und Instrumentalisierung in einen "goldenen Käfig" gesperrt.
- Im barbarischen Norden folgt man dem Pfad der Harmonie. Die Gabe wird in den freien Ländern als natürliche, aber gefährliche Berufung verstanden. Ein begabtes Kind wird nicht getötet, sondern aus der Gemeinschaft entfernt und einem Meister (einem Druiden oder Schamanen) übergeben, der es in der Wildnis lehrt, mit seiner inneren Kraft in Einklang zu leben und sie zum Wohle des Stammes einzusetzen.
In beiden Fällen jedoch ist das Schicksal eines menschlichen Geanisten besiegelt:
Er wird niemals ein normales Leben führen können. Seine seltene und wundersame Gabe macht ihn unweigerlich zu einem Außenseiter, der entweder als Werkzeug kontrolliert, als Monster gejagt oder als magische Gestalt verehrt und isoliert wird.
Methodik und Wirkweise
Jene, die die Naturmagie nutzen, die Geanisten, schöpfen ihre Macht nicht aus fernen, transzendenten Sphären, sondern wurzeln tief in der Welt unter ihren Füßen und nähren sich aus der Kraft in ihrem eigenen Blut. Sie sind Kanäle für die Macht der Welt selbst. Sie rufen die rohen Naturkräfte aus reiner Leidenschaft, lesen und lenken das Gemüt und die Gedanken ihrer Mitmenschen oder entfesseln animalische Kräfte und Sinne.
Das Lied der Welt: Die Allgegenwart des Echos
Obwohl das Geanische Echo zuerst im Blut der Alten Völker erwachte, ist seine Präsenz nicht auf Lebewesen beschränkt. Da Gea die Seele der gesamten materiellen Welt ist, durchdringt ihre Zuneigung und damit das Echo ihrer Macht alles in Essentia. Es ist ein ewiges Lied, das in allem schwingt: in der stoischen Ruhe der Landschaften und Wildnisse, im unaufhaltsamen Fluss der Gedanken und Gefühle sowie im pulsierenden Herzschlag eines jeden sterblichen Wesen. Die gesamte Schöpfung ist ein Klangkörper für diese Melodie, ein unendliches Orchester, das die Liebe seiner Schöpferin widerspiegelt.
Die meisten Menschen der Jungen Völker sind jedoch "taub" für dieses Lied. Sie wandeln durch die Welt, ohne ihre tiefe Musik zu hören, und nehmen nur die stille Oberfläche der Realität wahr. Nur jene, die das Geanische Blut in sich tragen, besitzen die angeborene Fähigkeit, diese Schwingungen zu hören und, was noch wichtiger ist, mit der eigenen Seele darauf zu antworten. Sie sind die seltenen Individuen, deren Blut nicht "still" ist, sondern die Melodie der Welt mitsingen kann. Diese angeborene Fähigkeit zur Resonanz ist der Schlüssel zur Naturmagie und der fundamentale Unterschied zu allen anderen Magieformen.
Das Prinzip der Immanenz: Die Magie Essentias
Die Naturmagie ist in ihrem Wesen die Magie der Immanenz – ein Prinzip, das sie fundamental von den anderen Magieformen unterscheidet und ihre wilde Kraft definiert. Ihre Quelle ist nicht in den fernen, entrückten Götterreichen des Elysiums oder der Unterwelt zu finden, noch entspringt sie den abstrakten, transzendenten Sphären von Arkanon.
Die Naturmagie ist die Magie der irdischen Schöpfung, der greifbaren, materiellen Welt Essentia selbst.
Sie ist weder Bitte noch Befehl an eine externe Macht. Sie ist ein Akt des Weckens und Sammelns. Der Anwender erschafft kein Feuer aus dem Nichts; er spricht zur Essenz der Hitze, die bereits in der Luft, im sonnengewärmten Stein und in seinem eigenen Blut schlummert, und bittet oder zwingt sie, sich an einem Ort zu versammeln und als Flamme zu manifestieren. Er erschafft keinen Sturm; er gibt dem bereits vorhandenen Druck der Luft eine Richtung und entfesselt ihre schlafende Energie.
Diese immanente Magie unterschiedet sich in ihrer Wirkweise grundlegend von anderen Magieformen:
Ein Ritualist erfleht ein Wunder durch göttliche Licht- oder Schattenmagie von außerhalb der Welt; ein Arkanist zwingt der Welt durch die universelle und abstrakte Macht der Arkanmagie ein kosmisches Gesetz von oben auf. Der Anwender der Naturmagie hingegen ist weder Priester noch Gelehrter im klassischen Sinne. Er ist ein lebendiger Teil der Magie selbst. Seine Macht ist untrennbar an die Welt gebunden, auf der er steht; er kann nur rufen, was bereits da ist, und nur formen, was ihm zur Verfügung steht. Er schöpft seine Kraft aus der natürlichen, instinktiven und zutiefst emotionalen Verbindung zur Schöpfung und stimmt in das Lied der Welt ein, um dessen Melodie mit der Stimme seiner eigenen Seele zu variieren.
Die immanenten Essenzen
Die Naturmagie ist in ihrem Kern die Kunst, mit den fundamentalen Bausteinen von Essentia in Resonanz zu treten. Diese Bausteine sind die immanenten Essenzen, die urtümlichen vier Elemente, in denen sich die schöpferische Kraft Geas in der materiellen Welt manifestiert. Sie sind die Farben, aus denen die Welt gemalt ist, die Töne, aus denen ihr Lied komponiert wird. Sie sind die Baustoffe der materiellen Welt sowie jedes sterblichen Wesens und jedes vergänglichen Dings.
Die vier Elemente als Grundbausteine
Jede der immanenten Essenzen repräsentiert ein grundlegendes Prinzip der Existenz, einen Aspekt des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen.
Zu den vier Grundelementen zählen:
| Feuer Die Kraft des Wandels und der Zerstörung |
Wasser Die Kraft des Lebens und der Transformation |
Erde Die Kraft der Beständigkeit und der Ruhe |
Luft Die Kraft der Freiheit und der Bewegung |
Als grundlegende Bausteine der Materie sind sie in ihrer Kombination in allen Wesen und Dingen der Schöpfung enthalten. Die gesamte irdische Existenz ist lediglich Resultat ihrer Vermischung durch Archonos, den Gott der Zeit.
Somit fließt auch im Blut der Sterblichen die Gesamtheit aller Elemente:
- Seine Wärme stammt von der Essenz des Feuers,
- seine flüssige Beschaffenheit ist Ausdruck des Wassers,
- seine unentwegte Fließbewegung ist der Antrieb der Luft
- und seine zähflüssige und gerinnungsfähige Konsistenz ist Merkmal der Erde.
Aufgrund dieser Beschaffenheit ist auch ein Geanist fähig, das Geanische Echo aus seinem grundlegenden Lebenssaft zu erwecken und die magische Resonanz der Elemente in seinem Blut zu entfesseln.
Die Kontroverse der beseelten Materie
Über die wahre Natur der immanenten Essenzen herrscht seit jeher ein tiefer philosophischer Streit, der die Anwender der Magie in zwei unversöhnliche Lager spaltet.
Die Auffassung der toten Materie, die vor allem von den Arkanisten der Akademien vertreten wird, besagt, dass die Elemente passive, willenlose Ressourcen sind. Für sie ist ein Stein nur ein Stein, eine Flamme nur eine chemische Reaktion. Die Essenzen sind für sie lediglich Energien, tote Materie, die durch die Anwendung korrekter Formeln (ihres Cantus Arkanum) manipuliert, vermessen und verwendet werden können. Da die Arkanisten nicht fähig sind, elementare Magie aus der Resonanz ihrer Körperzellen zu ziehen, erschließen sie sich die Macht der immanenten Essenzen über magisch-technische Umwege. Hierzu nutzen sie vor allem die alchemistische Extraktion der Elemente, welche die elementare Macht in Orichalkum-Behältern in Form von umgewandelten, transzendenten Arkanessenzen speichert. Für die Gewinnung dieser Ressourcen errichten die Arkanisten in ganz Eboria Schürfstellen, die sie als rationale Nutzung betrachten, um ihre Artefakte zu betreiben – eine Denkweise, die die Welt als Lagerhaus sieht.
Die animistische Lehre der beseelten Materie hingegen, die von Druiden, Schamanen und den meisten Geanisten instinktiv gefühlt wird, besagt, dass nichts in Essentia wahrhaft tot ist. Sie glauben an die Existenz von Mikroelementaren oder Kernlingen, wesenhaften Manifestationen der Essenzen, die als kollektive, absichtslose, aber präsente Seele in der Materie wohnen. Für sie ist jede Flamme ein Tanz unzähliger Mikro-Salamander, jeder Fels das schlafende Bewusstsein von Mikro-Oreaden. Ein Geanist gebietet nach dieser Lehre nicht über tote Materie, er kommuniziert mit dem trägen, aber präsenten Geist des Steins, des Sturms, der Flut und der Flamme. Seine Magie ist kein Akt der unpersönlichen Herrschaft, sondern ein (bewusster oder unbewusster) Dialog, ein Pakt mit der Welt selbst. Diese gegensätzlichen Ansichten führen unweigerlich zu tiefen, oft gewaltsamen Konflikten, wenn Arkanisten mit den Alten Völkern oder balmarischen Druiden um die als heilig erachteten Stätten der Wildnis streiten, die für die einen eine Ressource, für die anderen ein Heiligtum sind.
Gefühl als Auslöser
Die Naturmagie unterscheidet sich von allen anderen Magieformen durch ihren Ursprung im Inneren des Wirkenden. Es ist kein Zufall, dass sie an das Blut gebunden ist, denn die Kraftquelle dieser Magieform stammt aus jeder Zelle des eigenen Leibs, der selbst ein Mikrokosmos der Elemente ist.
Das Gefühl ist der Funke, der das schlafende Geanische Echo entzündet; es ist der Auslöser, der die stille Resonanz in eine weltverändernde Kraft verwandelt.
Diese untrennbare emotionale Kopplung ist der Grund für die immense Macht, aber auch für die furchterregende Gefahr der Naturmagie. Anders als die Arkanmagie, die durch die kalte Logik von Formeln kontrolliert wird, ist das Geanische Echo so unberechenbar wie das menschliche Herz. Die Naturmagie durchströmt den Körper des Wirkenden und löst dabei unweigerlich starke Emotionen aus, die wiederum die Magie verstärken – ein gefährlicher Kreislauf, der zur Ekstase oder zur Katastrophe führen kann. Ein Moment des emotionalm Kontrollverlustes kann eine magische Reaktion von katastrophalem Ausmaß auslösen: ein plötzlicher Schreck, der einen Sturm entfesselt, einen animalischen Angriff provoziert oder eine Welle lähmender Panik auf andere aussendet.
Diese inhärente Instabilität ist ein Wesensmerkmal der gefühlsbasierten Naturmagie selbst. Sie ist keine unvollkommene oder primitive Form der Magie, sondern eine Kraft, die sich der menschlichen Zivilisation und ihrer Sucht nach absoluter Kontrolle widersetzt. Sie ist das Echo der Wildnis – kraftvoll, schöpferisch, aber niemals vollständig zähmbar. Für jeden, der sie wirkt, ist sie ein ständiger Tanz an den Grenzen der emotionalen Beherrschtheit, ein Ringen um ein inneres Gleichgewicht, in dem ein einziger Fehltritt nicht nur den eigenen Untergang, sondern auch den der Welt um ihn herum bedeuten kann.
Die zwei Lehren des Zusammenspiels
Die Verbindung zwischen Emotion und Element ist keine bloße Metapher, sondern ein fundamentales, operatives Prinzip der immanenten Welt. Über das genaue Wesen dieser mystischen Verbindung gibt es zwei große Lehren, die aufeinander aufbauen:
die alte Weisheit der Argoser und die abstrakte Theorie der thyrnischen Akademien.
Die argosische Temperamentenlehre
Die ältere und ursprünglichere Theorie stammt aus den philosophischen Schulen Argosiens und ist tief im intuitiven Verständnis der Geanisten selbst verwurzelt. Diese Lehre ist ganzheitlich und mystisch. Sie fragt nicht nach dem "Warum", sondern beschreibt das "Was". Für die alten argosischen Meister war die Verbindung zwischen Gefühl und Element eine selbstverständliche, beobachtbare Wahrheit, so natürlich wie der Wechsel der Jahreszeiten.
Die Lehre der vier Temperamente ist weniger eine physikalische Erklärung als eine poetische und medizinische Beschreibung des Zusammenspiels von Seele und Welt. Sie besagt, dass die vier immanenten Essenzen nicht nur die Bausteine der äußeren Welt sind, sondern auch die vier seelischen "humores" (Säfte) bilden, die das innere Wesen und die Persönlichkeit eines jeden Lebewesens bestimmen.
Diese Lehre gilt universell:
Jedes Lebewesen – ob Mensch, Tier oder Pflanze – ist eine einzigartige Kombination dieser Elemente und wird von den entsprechenden Gemütern angetrieben.
Ein Bär ist eine Manifestation von dominanter Erde (Stärke) und gewaltvollem Feuer (Zorn); eine Weide ist ein Ausdruck von vorherrschendem Wasser (Flexibilität) und formgebender Erde (Beständigkeit). Die menschliche Seele gilt als der komplexeste Mikrokosmos, in dem alle vier Temperamente in einem ständigen, dynamischen Kampf um Dominanz ringen.
Die Naturmagie ist nach der Temperamentenlehre ein Spiegel des vorherrschenden Saftes im Körper des Geanisten:
Feuer: Das cholerische Temperament (Cholē)
"Die Welt ist kein Sein, sie ist ein Werden. Ein ewiges Feuer."
Das cholerische Temperament, nach alter argosischer Lehre genährt von der Cholē (der gelben Galle), ist die Verkörperung des ungestümen Willens und manifestiert sich in der Essenz des Feuers. Ein Geanist, dessen Wesen von diesem inneren Feuer dominiert wird, ist eine Seele im ständigen Wandel – ehrgeizig, leidenschaftlich und jähzornig, angetrieben von einer unstillbaren inneren Glut, die nach kreativem Ausdruck verlangt. Sein emotionales Spektrum ist das der Extreme: Es reicht von der strahlenden Wärme edler Tatkraft, glühender Leidenschaft und dem leuchtenden Funken des Optimismus bis hin zu rasenden Zorn und blinder, alles verzehrender Wut. Die Magie eines solchen Urformers ist selten subtil. Sie ist die direkte, explosive Entladung seiner inneren Hitze.
Beispiele für magische Reaktionen:
Glühender Ehrgeiz kann zu einem menschlichen Inferno werden, das alles zu Asche verbrennt. Brennender Zorn kann auf eine friedliche Menge übertragen und diese dadurch in einen wütenden Mob verwandeln werden. Lodernde Tatkraft kann sich in der Ausdauer eines Bullen äußern.
Wasser: Das phlegmatische Temperament (Phlegma)
"Der Ozean der Seele ist tief. Seine Stille ist ebenso mächtig wie seine Brandung."
Das phlegmatische Temperament, dessen Quelle nach der alten Lehre das Phlegma (der Schleim) ist, findet seine Entsprechung in der Essenz des Wassers. Ein Wesen, das von diesem Prinzip geprägt ist, ist von einer tiefen, oft unergründlichen Natur – ruhig, nachdenklich, empathisch und anpassungsfähig. Seine emotionale Welt ist ein Ozean, der von stiller Gelassenheit, tiefem Mitgefühl und reiner, sprudelnder Freude bis hin zu den finsteren Abgründen von Trauer, Angst und lähmender Verzweiflung reicht.
Beispiele für magische Reaktionen:
Bodenlose Trauer kann unabsichtlich eine Flutwelle aus den Tränen seiner Seele erschaffen. Tiefes Mitleid kann dazu führen, im Leid anderer zu "ertrinken". Wogende Gelassenheit kann die innere Ruhe eines Wals auslösen.
Erde: Das melancholische Temperament (Melas Cholē)
"Was unbeweglich scheint, trägt die größte Kraft in sich."
Das melancholische Temperament, das nach der Lehre der humores aus der Melas Cholē (der schwarzen Galle) entspringt, ist die Manifestation der Essenz der Erde. Ein Geanist, der von diesem Temperament bestimmt wird, ist das Fundament, der Fels in der Brandung. Er ist ernst, loyal, bedächtig und besitzt eine fast unzerbrechliche Willenskraft. Sein Wesen ist geprägt von stoischer Ruhe, unermüdlicher Beharrlichkeit und einem tiefen Gefühl der Verantwortung. Seine Magie ist die der Beständigkeit und Stabilität.
Beispiele für magische Reaktionen:
Unerschütterliche Entschlossenheit kann Haut hart wie Stein werden lassen. Fester Wille kann Mitmenschen emotionale Impulse oder geistige Befehle aufzwingen. Stoische Beständigkeit kann dazu dienen, unerträgliche Schmerzen wie eine Pflanze auszuhalten.
Luft: Das sanguinische Temperament (Sanguis)
"Der Gedanke ist frei, denn der Sturm kennt keine Fesseln."
Das sanguinische Temperament, das nach der antiken Lehre dem Sanguis (dem Blut) zugeordnet ist, findet seinen Ausdruck in der Essenz der Luft. Ein Urformer dieses Typs ist von einem optimistischen, neugierigen und unruhigen Geist beseelt. Sein Wesen strebt nach Freiheit, sprüht vor Einfallsreichtum und geistiger Klarheit. Seine Magie ist flüchtig, unsichtbar und unberechenbar wie der Wind selbst.
Beispiele für magische Reaktionen:
Schwerelose Euphorie kann dazu führen, dass der Körper des Geanisten in die Luft gehoben wird und schwebt. Ein beflügelnder Geist kann Mitmenschen mit Ideen anstecken und inspirieren. Grenzenlose Freude kann meterhohe, katzenhafte Sprünge auslösen.
Gleichgewicht und Ungleichgewicht der Temperamente
Nach der Temperamentenlehre ist die Naturmagie der direkte Ausdruck des inneren, elementaren Gleichgewichts (Eukrasie) oder Ungleichgewichts (Diskrasie) des Geanisten.
- Eukrasie: Ein Geanist, dessen Säfte – dessen humores – in perfekter Harmonie zueinanderstehen, dessen cholerisches Feuer durch die Ruhe des phlegmatischen Wassers gemildert und dessen melancholische Erde durch die Leichtigkeit der sanguinischen Luft gehoben wird, befindet sich im Zustand der Eukrasie. Diese ist der theoretische, von vielen angestrebte Zustand vollkommener emotionaler Harmonie und meisterhafter Kontrolle über die Naturmagie. Sie ist das Ergebnis der absoluten Selbstbeherrschung, einer inneren "Alchemie", bei der ein Anwender gelernt hat, seine elementaren Temperamente in ein perfektes, dynamisches Gleichgewicht zu bringen. In diesem Zustand wird das Gefühl nicht unterdrückt, sondern als präzises Instrument genutzt. Der Anwender ist nicht länger der Sklave seiner inneren Stürme, sondern ihr souveräner Gebieter. Die Eukrasie erlaubt es, das Geanische Echo mit unerschütterlicher Willenskraft zu lenken und seine volle schöpferische und zerstörerische Kraft kontrolliert zu entfesseln. Es ist das Prinzip der Meisterschaft durch Selbstfindung und Balance. Ein solcher Meister kann seine Magie mit unerschütterlicher Willenskraft und Präzision lenken. Er ist nicht länger der Sklave seiner Emotionen, sondern ihr souveräner Gebieter.
- Diskrasie: Ein Ungleichgewicht hingegen, die sogenannte Dyskrasie, ist der natürliche, aber gefährliche Zustand der meisten Geanisten, insbesondere der Blut-Geanisten der Jungen Völker mit ihrem zerrissenen Erbe der Umbrin.
Ist ein Temperament zu dominant, verzerrt es nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch die magische Manifestation:
- Ein Übermaß an Feuer (Cholē) führt zu einem impulsiven, egozentrischen und tyrannischen Charakter. Die Magie wird unkontrollierbar explosiv. Ein solcher Geanist wird zur wandelnden Gefahr, da selbst leichte Reizbarkeit unwillkürliche Flammenstöße oder unkontrollierte Wutübertragungen auf Mitmenschen oder animalische Aggressionen auslösen kann.
- Ein Übermaß an Wasser (Phlegma) führt zu Apathie, lähmender Melancholie und emotionaler Instabilität. Der Geanist ertrinkt in seinen eigenen Gefühlen und denen anderer. Seine Magie wird willkürlich und unzuverlässig und manifestiert sich als ständiger Nieselregen, eine ansteckende, lähmende Depressivität oder ein völliger Rückzug in das gedämpfte Dasein der Unterwasserwelt.
- Ein Übermaß an Erde (Melas Cholē) führt zu sturer Unbeweglichkeit, Trägheit und einem Widerstand gegen jede Veränderung. Die Magie wird starr und kompromisslos. Der Geanist mag unzerstörbar erscheinen, verliert aber jede Flexibilität und wird unfähig, auf neue Situationen zu reagieren, gefangen in seiner eigenen unerschütterlichen Entschlossenheit. Er erstarrt wortwörtlich zu Stein, zwingt anderen seinen Willen auf oder entwickelt die Unbeweglichkeit eines sturen Esels.
- Ein Übermaß an Luft (Sanguis) führt zu extremer Unbeständigkeit, mangelnder Konzentration und einer tiefen Furcht vor Bindungen. Die Magie wird chaotisch, flüchtig und unzuverlässig. Der Geanist wird zum Spielball seiner Launen, unfähig, eine Tat zu vollenden, da seine Inspiration so schnell verschwindet, wie sie gekommen ist, oder er in ständiger Panik vor imaginären Bedrohungen lebt. Er kann in diesem Zustand wortwörtlich die Bodenhaftung verlieren und unkontrolliert vom Boden abheben, durch seine innere Hektik alle Gedanken und Emotionen seiner Mitmenschen verwirren oder sich panisch in tierischen Fluchtinstinkten verlieren.
Die Doktrin des Elementaren Einklangs
Die Doktrin des Elementaren Einklangs ist die intellektuelle Erwiderung der thyrnischen Akademien auf die ehrwürdige, doch in ihren Augen unvollständige argosische Weisheit der Temperamente. Während die Argoser die Naturmagie als einen metaphysischen Akt der Hingabe und der mystischen Verbindung betrachten, verlangt der thyrnische Intellekt nach Wirkprinzipien und kausalen Zusammenhängen.
Für einen Arkanisten, der die Welt als ein System aus Regeln und verborgenen Architekturen begreift, ist das poetische Gleichnis – Zorn ist Feuer – eine bloße Analogie, keine Erklärung. Es beschreibt ein Phänomen, offenbart aber nicht die verborgene Mechanik seiner Wirkung. Die Doktrin des Elementaren Einklangs ist der triumphale Versuch der Arkanisten, das "Warum" hinter der Magie des Geanisten zu ergründen und die Seele selbst in ein System von Harmonien zu fassen.
Das Postulat der Harmonien: Essenz und Affekt
Den Kern der Doktrin bildet das Postulat, dass der Kosmos auf fundamentalen Harmonien basiert, ähnlich der verborgenen Ordnung in der Musik. Die Gelehrten postulieren, dass jede der vier immanenten Essenzen einen eigenen, stabilen Grundton oder eine Signatur besitzt, die ihr innewohnt.
Die Essenzen: Feuer, Wasser, Erde und Luft sind demnach nicht nur passive Substanzen, sondern fundamentale Zustände des Seins, definiert durch ihre ureigene, innere Schwingung.
Die Affekte: Parallel dazu werden die Gefühle (Affekte) neu gedeutet. Sie sind nach dieser Lehre keine rein metaphysischen Zustände, sondern kraftvolle Impulse der Seele, die im Körper des Geanisten entstehen und eine physische Entsprechung im Puls des Blutes und im Odem des Geistes finden.
Das Agens: Die Funktion des Geanischen Blutes
Das Geanische Blut ist nach dieser Doktrin das entscheidende Agens – das Medium, welches die Brücke zwischen dem Inneren (dem Mikrokosmos des Geanisten) und dem Äußeren (dem Makrokosmos der Welt) schlägt.
Die Arkanisten argumentieren, dass jedes Ding und Wesen zwar ebenfalls elementare Impulse erzeugt, diese jedoch schwach, unrein und dissonant sind. Sie sind ein diffuses Murmeln im Gewebe der Welt, ein Chaos widerstreitender Töne, das keine Wirkung erzielen kann.
Das Geanische Blut jedoch, wenn es durch den Willen des Geanisten gelenkt wird, agiert wie ein vollkommener Resonanzkörper oder eine kosmische Stimmgabel. Es besitzt die angeborene Eigenschaft, die dissonanten Affekte des Trägers zu läutern (zu reinigen) und zu bündeln. Es verleiht dem Geanisten die Fähigkeit, seinen Gemütszustand in einen reinen, klaren Ton zu verwandeln, der exakt dem Grundton einer der äußeren Essenzen entspricht.
Das Wirkprinzip des Mitschwingens
Die Arkanisten erklären den Akt der Magie als eine klare Wirkungskette, die auf dem Prinzip des Mitschwingens im Einklang (der Resonanz) beruht – jenem Effekt, der auch eine unberührte Saite einer Lyra erklingen lässt, wenn ihr Ton in der Nähe angeschlagen wird, oder der Glas durch einen reinen, gehaltenen Ton zerspringen machen kann.
Der Prozess dieser magischen Wirkung (die Magurgia) verläuft demnach wie folgt:
- Impuls (Innen): Der Geanist fokussiert einen reinen Affekt (z. B. Zorn).
- Stimmung (Blut): Das Geanische Blut reagiert. Es filtert alle Dissonanzen heraus und stimmt diesen Zorn auf den reinen Grundton des Feuers.
- Ausstrahlung (Übertragung): Dieser innere Impuls, dieser reine "Seelenklang", strahlt vom Körper des Geanisten in die unmittelbare Umgebung aus und pflanzt sich durch das Medium der Welt fort.
- Erweckung (Außen): Diese Welle trifft auf die "schlafende", latente Essenz des Feuers in der materiellen Welt (z. B. in der Luft oder im Holz).
- Einklang (Resonanz): Durch den exakten Einklang der Töne wird die externe Essenz "erweckt". Sie wird angeregt, beginnt mit dem Geanisten mitzuschwingen und wird dadurch für seinen Willen empfänglich gemacht.
- Formgebung (Wille): Erst in diesem Zustand des Einklangs kann der Wille des Geanisten die Essenz ergreifen, sie an einem Ort sammeln, ihr eine Form geben oder sie als Waffe manifestieren.
Implikationen: Die Entschleierung der Naturmagie
Diese Doktrin ist bewusst technischer, kälter und entschleiert die Naturmagie. Sie ist ein Paradigmenwechsel, der die argosische Weisheit durch eine thyrnische Naturphilosophie ersetzt:
- Die Seele des Elements der Argoser wird durch den messbaren Grundton der Essenz ersetzt.
- Die mystische Verbindung wird durch kausale Harmonie und Einklang ersetzt.
- Der Akt der Hingabe wird durch einen Akt der fokussierten Stimmung der Seele ersetzt.
Für die Arkanisten ist dies kein spiritueller Verlust, sondern ein triumphaler Gewinn. Sie haben die Magie des Geanisten als einen logischen, kausalen Prozess erklärt, der auf den alten, poetischen Beobachtungen aufbaut. Sie haben das "Wunder" aus dem Reich des Glaubens in das Reich der vorhersehbaren arkanen Prinzipien überführt.
Metamorphose: Das Prinzip der Fusion und Selbstaufgabe
Die Antithese zur Eukrasie
Die Metamorphose ist das radikale, furchteinflößende Gegenstück zur Eukrasie (dem emotionalem Gleichgewicht) und das bewusst oder unbewusst herbeigeführte Extrem der Diskrasie (dem emotionalem Ungleichgewicht). Sie ist nicht das Ergebnis von Balance und disziplinierter Meisterschaft, sondern von absoluter, obsessiver Hingabe an einen einzigen Aspekt der Naturmagie. Während der Meister der Eukrasie lernt, seine inneren Temperamente wie ein Gespann wilder Pferde durch reine Willskraft im Gleichgewicht zu halten, ist die Metamorphose der Moment, in dem der Geanist die Zügel loslässt.
Er wählt nicht die Harmonie, sondern die Eskalation. Er verweigert den Kampf um das Gleichgewicht und gibt sich stattdessen vollständig jenem einen Element hin, das am stärksten in seiner Seele widerhallt.
Elementare Verschmelzung als Weg zur irdischen Unsterblichkeit
Es ist das ultimative Prinzip der Fusion, bei dem der Anwender die mühsam aufrechterhaltenen Grenzen seines eigenen Seins aufgibt und vollständig mit einer anderen immanenten Essenz verschmilzt. Die Seele des Geanisten, ein einzelner, bewusster Tropfen, gibt sich dem Ozean der von ihm favorisierten Essenz hin und wird selbst zum Ozean – sei es das reine Element des Feuers, das kollektive Instinktbewusstsein eines Wolfsrudels oder der Gedankenstrom eines Mitmenschen.
Dieser Akt der Selbstaufgabe, ob als bewusster Prozess der Hingabe oder als ein plötzlicher, katastrophaler Sturz in einem Moment überwältigender Emotionen, führt zu einer Form der immanenten Unsterblichkeit. Der Geanist besiegt den Tod, indem er seine sterbliche Hülle auflöst und mit der Beständigkeit der Elemente eins wird. Er wird zu einem unsterblichen Ortsgott, einem Elementarwesen, das im Sturm lebt, oder einer Bestie von unnatürlicher Intelligenz, die den Wald hütet.
Der Preis dafür ist jedoch fast immer der Verlust der individuellen Identität und des menschlichen Bewusstseins.
Wiederherstellung und Formwandel
Normalerweise bedeutet die Metamorphose das unwiderrufliche Ende der sterblichen Existenz. Es ist nur sehr wenigen Geanisten in der Geschichte gelungen, sich nach dieser Fusion wieder in ihrer menschlichen Form "zusammenzusetzen".
Dies erfordert zwei außergewöhnliche Fähigkeiten, die sich gegenseitig fast ausschließen:
Die Fähigkeit, selbst inmitten der absoluten Fusion das eigene menschliche Bewusstsein zu bewahren und nicht im Ozean der Essenz unterzugehen.
Die magische Fähigkeit, die Elemente und die exakte Struktur des sterblichen Körpers intuitiv "abzuspeichern", um sie nach deren Auflösung wieder exakt zusammensetzen zu können.
Diese kombinierte Macht besitzen nur sehr wenige Geanisten der Alten Völker; bei den Jungen Völkern ist ihre Anzahl verschwindend gering. Jenen, denen dies gelingt, ist es theoretisch sogar möglich, zwischen den Formen hin und her zu wechseln. Dies ist jedoch keine Trivialität, sondern eine stetige Meisterleistung des emotionalen Gleichgewichts oder der Ausdruck eines unbeugsamen Geistes und extremer Willensstärke.
Die Konsequenz: Verheißung und Verlust der Menschlichkeit
Für die überwältigende Mehrheit der Geanisten, die diesen Pfad wählen oder auf ihn gestoßen werden, gilt jedoch der folgende, tragische Preis:
Die Metamorphose ist die ultimative und letzte Stufe der Naturmagie. Für einen Blut-Geanisten, dessen Leben oft ein schmerzhafter Kampf zwischen seinen inneren Temperamenten und einer feindseligen Welt ist, ist sie die Verheißung des Friedens – die Verheißung, selbst zu einem unsterblichen, mächtigen Teil von Essentia zu werden, indem man endlich aufhört, das leidende, sterbliche Selbst zu sein.
In diesem Akt der Fusion wird die Persönlichkeit ausgelöscht.
Die Erinnerungen, die Ängste, die Liebe und der Hass, die das Individuum ausmachten, werden von der gewaltigen, absichtslosen Kraft der Natur überschrieben. Der Urformer, der zu Feuer wird, spürt nicht mehr den Zorn, der ihn transformierte; er spürt nur noch den Hunger der Flamme. Der Wildwandler, der zum Wolf wird, erinnert sich nicht mehr an seine menschliche Familie; er kennt nur noch den Instinkt des Rudels. Der Seelenlenker, der sich im kollektiven Bewusstsein einer Stadt verliert, wird zu einem Geist im Labyrinth fremder Gedanken, ohne ein eigenes "Ich", zu dem er zurückkehren könnte.
Die Metamorphose ist somit die größte Tragödie des Individuums und der höchste Triumph der geanischen Macht. Sie ist der Gipfel der Macht, erreicht durch den vollständigen und – im Normalfall – unwiderruflichen Verlust des Selbst.
Varianten der Naturmagie
Obwohl das Geanische Echo eine einzige, allumfassende Kraft ist, manifestiert es sich durch die Seelen der Sterblichen in drei großen, archetypischen Domänen. Diese Varianten sind keine getrennten Magieschulen, sondern die drei fundamentalen Ausdrucksformen der immanenten Welt: die der materiellen Urstoffe, die des geistigen Bewusstseins und die der seelischen Instinkte. Jeder Stil der Naturmagie repräsentiert eine einzigartige Art, mit der Welt in Resonanz zu treten und das Lied Geas zu singen. Es ist eine Frage der inneren Veranlagung, des persönlichen Temperaments, welche Saite der Welt im Geanisten am stärksten schwingt.
Die Elementarmagie ist die Herrschaft über die grundlegenden, unbewegten Bausteine der Schöpfung. Sie ist die Magie der Naturkräfte.
Die Seelenmagie ist die Verbindung zum inneren Ozean des Geistes, der Emotionen und des Willens. Sie ist die Magie des seelischen Bewusstseins.
Die Wildnismagie ist die Empathie mit dem pulsierenden Netz der belebten Natur, der Tiere und der Pflanzen. Sie ist die Magie des wilden Instinkts.
Elementarmagie
Die Elementarmagie ist die direkteste, roheste und oft gewaltigste Form der Naturmagie. Sie ist die Kunst, mit den reinen, ungebundenen immanenten Essenzen zu wirken. Ihr Anwender, der Urformer, ist ein Meister der unbelebten Materie. Er sieht die Welt als ein Meer aus Potential, als schlafende Kraft, die darauf wartet, geweckt zu werden. Seine Macht ist die ungezähmte Gewalt der Elemente, direkt aus dem Herzen der Schöpfung gerissen, geformt durch seinen Willen und entfesselt durch seine Emotion. Die Elementarmagie ist keine Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo), sondern ein Rufen und Wecken dessen, was bereits in der Umgebung vorhanden ist. Der Körper des Wirkenden agiert als Katalysator, als Fokuspunkt, der die schlafende Essenz der Hitze in der Luft zu einer Flammenwand sammelt, die Feuchtigkeit des Bodens zu einer Eisbarriere verdichtet oder den Fels selbst dazu bewegt, sich zu erheben. Es ist eine Magie der Manifestation, untrennbar an die materielle Welt und ihre Gegebenheiten gebunden.
Seelenmagie
Die Seelenmagie ist die subtilste, invasivste und unheimlichste Variante der Naturmagie. Sie befasst sich nicht mit der äußeren, materiellen Welt, sondern mit der inneren, feinstofflichen Landschaft des Bewusstseins. Ihr Anwender, der Seelenlenker, ist ein Meister des Geistes, der Emotionen und des Willens. Er lauscht den Echos, die Seelen als halbmaterielle Wellen aussenden. Die Theorie hinter dieser Magie besagt, dass Gedanken und Gefühle keine reinen Abstraktionen sind, sondern feinstoffliche Schwingungen, die vom lebenden Körper als Resonanzboden ausgestrahlt werden. Da „Essentia“ alle Sterblichen durch die Magie der Elemente verbindet, weisen auch die Körper der Sterblichen eine magische Verwandtschaft auf, welche eine non-verbale Kommunikation erlaubt. Die Körper wirken dabei wie ein Sender-Empfänger-Prinzip. Der Seelenlenker ist jener, der gelernt hat, diese Frequenzen bewusst als feinste Schwingungen zu "spüren" und zu "senden". Er nimmt den unterdrückten Zorn in seinem Mitmenschen wahr, da diese Emotion dessen inneres Feuer in Wallung bringt oder er spürt die starre, unerschütterliche Barriere eines starken Willens, da diese sich aus er inneren Erde der Seele speist.
Die Seelenmagie ist die Fähigkeit, diese "Seelenwellen" der Elemente im Körper eines anderen wahrzunehmen, zu deuten und zu beeinflussen. Sie ermöglicht eine stille Kommunikation über weite Strecken (Telepathie), das Ergründen der tiefsten Wahrheiten und verborgensten Ängste (Gedankenlesen), die Erzeugung künstlicher Emotionen, die Manipulation des Willens (Hypnose, Gedankenkontrolle) oder das Senden unwiderstehlicher geistiger Befehle. Es ist eine zutiefst manipulative Kunst, die das Lied einer anderen Seele hört und es mit der eigenen Stimme überschreibt.
Wildnismagie
Die Wildnismagie ist die instinktivste und erdverbundenste aller Varianten. Sie ist die Magie der tiefen Empathie mit dem pulsierenden, atmenden Gefüge von Essentia. Ihr Anwender, der Wildwandler, ist kein Herrscher über die Natur, sondern ein lebendiger Teil von ihr. Er versteht, dass das Leben selbst die komplexeste Form der Elementarmagie ist, eine Symphonie aller Essenzen, die zu einem bewussten Wesen verwoben wurden.
Diese Magieform basiert auf der Fähigkeit, die komplexen Essenz-Muster, aus denen Lebewesen gewoben sind, nicht nur zu spüren, sondern sich empathisch mit ihnen zu verbinden. Jedes Tier und jede Pflanze besitzt eine einzigartige Signatur aus Lebenskraft und Instinkt. Die Wildnismagie ist die Kunst, diese Signatur zu "lesen" und die eigene Essenz mit ihr in Resonanz zu bringen, die Grenzen des eigenen Ichs aufzuweichen. Dies ermöglicht eine stumme Kommunikation mit Tieren und Pflanzen, das Leihen ihrer scharfen Sinne, oder sogar die partielle Übernahme ihrer physischen Fähigkeiten – die Kraft eines Bären, die Zähigkeit einer Baumrinde, die Geschwindigkeit eines Falken. Es ist ein Akt der vollkommenen Hingabe an das Leben selbst, eine Überschreitung der eigenen Spezies durch Empathie.