Kenjis Tempel
Dieser Tempel enthält Informationen, die vorerst nur für Kenji bestimmt sind.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Großes Passionengebet
- 2 Kenjis kronstädter Kontakte
- 3 Die Villa des Aequus
- 4 Kenjis Hintergrundwissen über die letzten Jahre in Kronstadt
- 5 Kenjis Gebet in der Nacht zum 22. Loar 351 i.J.P.
- 6 Geschichte von Kenjiro Asai
- 6.1 Geburt und frühes Kindesalter (314 - 318 i.J.P.)
- 6.2 Kindheit im Tempel in Kronstadt (318 - 321 i.J.P.)
- 6.3 Kenji das Straßenkind (322 - 327 i.J.P.)
- 6.4 Ein schicksalhaftes Unglück und die Rückkehr zum Licht (327 i.J.P.)
- 6.5 Der Pfad des himmlischen Greifen (328 - 338 i.J.P.)
- 6.6 Der junge und der alte Questor (338 - 345 i.J.P.)
- 6.7 Schatten über Kronstadt (345-350 i.J.P.)
- 7 Informationen für Kenjis Biografie
- 8 Information Mamercus Porcius Mucus
- 9 Letzte Nacht
- 10 Links
Großes Passionengebet
Hört meinen Ruf, heilige Passionen!
Ihr göttlichen Bewahrer von Himmel und Erde! Edle Hüter Barthavions!
Eure Botschaft ist das Licht!
Vertreibt die Schatten und erleuchtet die finsteren Orte!
Erhellt die Herzen der Verzweifelten und seid ihnen ein Licht im Dunkeln!
Lasset euer Licht über uns allen erstrahlen und seid unser führender Stern!
Denn euer Licht ist unser Licht, im Leben und im Tod!
Kenjis kronstädter Kontakte
Der oberste Richter Walram von Salzbruck
Der oberste Richter Walram von Salzbruck ist von dem Rat von Kronstadt als Rechtssprecher und Vorsteher des großen Mynbruje Tempels eingesetzt worden. Er ist seit langen eine prominente Person unter dem Kronstädter Adel und galt schon immer als ein Karrieremensch, der sich im Rat schon in jungen Jahren einen bekannten Namen machte. Durch die neuen Gesetzte in der Stadt und dem Bruch mit Throal hat er nun einen der wichtigsten Posten inne und schien sich auch mit dem Statthalter Vorax blendend zu verstehen. Er hat die alten Mynbrujequestoren auch nicht aus dem Tempel vertrieben, sondern zeigte sich ihnen gegenüber versöhnlich, indem er ihnen neue Ämter als Rechtssprecher anbot und sie bat ihm dabei zu helfen, die neue Gesetzgebung in Kronstadt durchzusetzen. Er betonte stets, dass ein geschriebenes Gesetz zu einer größeren Gerechtigkeit und Gleichbehandlung der Menschen führe, als wenn die Questoren ihr Recht nach religiöser Willkür sprechen. Einige der Questoren haben daraufhin sein Angebot angenommen, andere wollten jedoch ihren Glaubenssätzen treu bleiben und verließen Kronstadt, um ihre Dienste woanders in Barsaive anzubieten.
Der alte Vorsteher und Erzquestor Merkan Hellron ging zurück nach Throal, da auch er sich nicht auf seelsorgerische Tätigkeiten beschränken oder ein verändertes Amt unter der Aufsicht des Kronstädter Rats annehmen wollte. Auch viele andere Mynbrujequestoren blieben ihren religiösen Überzeugungen treu und schlossen sich ihm an.
Der Widerständler Jast Heidiger
Es gab jedoch einige Questoren, die in der Stadt blieben, weil sie sich dem neuen Gesetz des Rats (wie Kenji) widersetzten und versuchten, die Kronstädter weiterhin für den Bund von Throal zurückzugewinnen. Einer davon ist Jast Heidiger, welcher es nicht übers Herz bringen konnte, die religiösen Traditionen Barsaives zu verraten oder nach Throal abzuziehen. Früher hatte er im Tempel ein hohes Ansehen und galt als potentieller Nachfolger des alten Erzquestors. Neben den Schiedssprüchen, welche den Mynbrujequestoren immer noch erlaubt waren, mischte er sich nach dem Dekret des Rates auch in Rechtssprüche ein, welche nun per Gesetzbuch streng definiert waren, ihm jedoch als ungerecht erschienen. Ähnlich wie Kenji galt er als unbequem und focht sogar Todesurteile an. Mehr als einmal zog er somit die Verärgerung des Rates auf sich und konnte dem Kerker nur knapp entkommen, als er den Tod eines hinterhältigen Mörders forderte, welcher jedoch von dem neuen obersten Richter einen Freispruch erhielt, weil es sich um eine angesehene Person aus dem kronstädter Adel handelte. Jast Heidiger war damals felsenfest davon überzeugt, dass dieser Freispruch erkauft wurde und der neue Richter einen gefährlichen Verbrecher auf freien Fuß setzte, weil dieser ihn durch eine große Summe bestochen habe. Vielleicht hat Kenji in seiner abgelegenen Kapelle auch von diesem Fall gehört, da Jast mit seinem Widerstand damals für großes Aufsehen gesorgt hat. Auch bekam er danach immer größere Schwierigkeiten und der Rat drohte ihm mit dem Kerker, wenn er sich nicht aus den Urteilen des Rats heraushalten würde. Ob Jast jedoch auch fliehen musste, ist Kenji unbekannt. Das letzte was er weiß, ist, dass Jast in der Stadt untergetaucht ist, jedoch weiterhin versuchte, gegen die neue und seiner Meinung nach ungerechte und korrupte Gesetzeslage anzukämpfen.
Der Seelsorger Odumir Arsinger
Ein anderer Mynbrujequestor ist der alte Odumir Arsinger. Dieser ist ein tiefgläubiger und sehr harmoniebedürftiger Mensch und hat versucht, sich mit den neuen Umständen in Kronstadt zu arrangieren. Seiner Meinung nach kann sich die Gerechtigkeit Mynbrujes genauso gut durch ein geschriebenes Gesetz ausdrücken, wie durch individuelle Richtsprüche. Deshalb hat er wenig Probleme damit, seine Urteile aus einem Gesetzbuch zu verlesen, welches vom Rat von Kronstadt verfasst wurde, solange es dadurch zu einem gerechten Urteil kommt. Vermutlich hat Odumir sich aber auch an die neue Situation angepasst, da er immer wieder betonte, dass er niemals seine Gemeinde im Stich lassen würde. Als Kenji Kronstadt verließ, war er für die Rechtsprechung im Stadtviertel der Fischer und Arbeiter zuständig und jeder weiß, dass er sich aufopferungsvoll um seine Schäfchen gekümmert hat und besonders für seine seelsorgerischen Qualitäten bekannt war. Da er selbst von einfacher Abstammung war und man ihn nicht gerade als Gelehrten bezeichnen konnte, war er immer sehr nah beim einfachen Bürger und hat sich weniger für die weltlichen und juristischen Aspekte seines Amtes interessiert. Für ihn steht das seelische Wohl seiner Gemeinde immer über intellektueller Rechthaberei oder weltlichen Verwaltungsstreitereien. Er glaubt auch daran, dass es eine höhere Gerechtigkeit des Mynbruje gibt, welche über der weltlichen steht und es unmöglich mache, dass irgendein Lebewesen seinem gerechten Schicksal zu entkommen könnte (Karma). Dementsprechend kümmert er sich nur wenig um Politik oder die Veränderungen in der Stadt, sondern vertraut auf die Macht Mynbrujes, ganz gleich, welche Regierung oder Rechtsprechung zufällig existiert. Für ihn zählt nur, dass er seiner Gemeinde einen väterlichen Vertrauten bieten und ihnen mit Rat und spiritueller Unterstützung zur Seite stehen kann.
Die Garlenquestorin Talina Westwind
Pyrrhon und Kenji erhielten in ihrer Kapelle immer wieder Besuch von den Questorinnen der Garlen, welche häufig auf die außerhalb gelegenen Höfe hinauskamen, um die Bauern von Krankheiten zu heilen oder ihnen bei Gebrechen und Not beizustehen. Viele von ihnen machten Rast bei der Kapelle von Pyrrhon und zu einigen entwickelten sich mit Sicherheit auch gute Freundschaften. Bei Taufen und Hochzeiten begleiteten Kenji und sein Lehrmeister die Questorinnen auch zu den Feierlichkeiten auf den Höfen, da es Brauch ist, dass sowohl eine Garlenquestorin, als auch ein Mynbrujequestor gemeinsam einen Segen zu diesen Anlässen sprechen, da sie zusammen das göttliche Paar des Himmelsvaters Mynbruje und der Erdmutter Garlen in diesen Zeremonien verkörpern.
Unter den Questorinnen gab es eine, die nur wenige Jahre junger als Kenji war und so zu den wenigen Adepten in der Umgebung gehörte, die in etwa sein Alter besaßen. Ihr Name lautet Talina Westwind. Sie war die Tochter eines Perlenschleifers, welcher am kronstädter Hafen Knöpfe und anderen Schmuck aus Perlmutt herstellte. Als sie ein Kind war, hatte ihr Vater beim Perlentauchen einen schlimmen Unfall und lag viele Tage im Koma. Sie hat tagelang im Tempel der Garlen für ihn gebetet und der Göttin versprochen, dass sie ihr ihr Leben verschreibt, wenn sie das ihres Vaters retten würde. Nachdem sie eine ganze Nacht im Tempel durchgebetet hatte, wachte dieser plötzlich wieder kerngesund auf, als wäre ihm nie etwas geschehen. Danach schloss sich Talina den Schwestern der Garlen an, obwohl ihre Eltern dies nur ungern sahen, da sie ihr einziges Kind war und sie hofften, dass sie eines Tages ihre Perlenschleiferei übernehmen würde. Da sie jedoch ihr Leben der Göttin versprochen und ihres Glaubens nach ihrem Vater damit das Leben gerettet hatte, akzeptierten ihre Eltern es, dass sie im Alter von 12 Jahren in den Tempeldienst eintrat.
Talina war ein gutmütiges, einfühlsames und hilfsbereites Mädchen und Kenji konnte immer wieder sehen, wie gut sie mit Menschen umgehen und ihnen bei ihren Problemen helfen konnte. Sie besuchte Pyrrhon und Kenji jedes Mal, wenn sie etwas bei den Bauern zu tun hatte und freundete sich bestimmt mit dem gleichaltrigen Kenji an.
Kenji, der eine sehr gute Menschenkenntnis hat, wird bemerkt haben, dass sie heimlich in ihn verliebt war, was sie jedoch niemals sagte, da Questorinnen der Garlen nicht heiraten oder eine Beziehung führen dürfen, da sie ihre ganze Fürsorge in den Dienst ihrer Gemeinde zu stellen haben (sie können jedoch - wie Nonnen - auch wieder austreten und ein weltliches Leben wählen). Wie Kenji damit umgegangen ist oder ob er ihre Gefühle erwidert hat, bleibt ihm überlassen.
Der Boron Questor Aedin Schattengrund
Im Tempel des Boron arbeitet und wohnt der alte Aedin Schattengrund. Dieser ist ein uralter Mann und war bereits während des Krieges und lange vor Kenjis Geburt tätig. Niemand weiß genau, wie er zum Questor wurde und er redet auch nur sehr selten über sich oder sein Leben. Man erzählt sich jedoch, dass er als junger Mann mit einem Schiff aus Olburg nach Kronstadt kam und bei dem vorherigen Boronquestor in die Lehre ging. Seit dessen Tod kümmert er sich um alle Bestattungen in der Stadt und der näheren Region.
Er gilt als Eigenbrötler und kann hin und wieder ganz schon garstig sein, wenn jemand keinen Respekt vor seinem Amt oder seiner Arbeit zeigt. Er nimmt seine Arbeit als Questor sehr ernst und sieht es als seine Pflicht an, allen Menschen stets ihre Vergänglichkeit und die allgegenwärtige Präsenz des Todes bewusst zu machen, welche sie daran erinnern soll, Demut vor dem Leben und den Gaben der Passionen zu zeigen. Oft redet er mantrisch davon, dass die meisten Probleme der Menschen daherkommen, dass sie sich in ihrem Hochmut unsterblich fühlen und deshalb keinen Respekt mehr vor dem Lebendigem haben. Als ein wandelndes „Memento mori“ kann er deshalb ein sehr anstrengender Gesprächspartner sein, aber wenn er bemerkt, dass jemand seine spirituellen Ermahnungen ernst nimmt, gibt er sich alle Mühe um, mit ihm ernsthaft über Leben und Tod zu philosophieren.
Für Politik interessiert er sich nicht wirklich. Für ihn ist es gleich, ob die Menschen arm oder reich, angesehen oder verachtet, versklavt oder frei sind und welche Regierung zurzeit herrscht, da seiner Meinung nach im Tod alle Menschen vereint werden und irgendwann alle bei ihm auf dem Acker landen. Er selbst ist deshalb strenger Asket und sieht keinen Sinn darin, sich während seines kurzen, irdischen Lebens an Dinge zu binden, welche nach dem Tod ihre Bedeutung verlieren.
Der Gastwirt von der „Grünen Rast“ Grifo Lausinger
Der Gastwirt war ein etwas grobschlächtiger Mann und für seinen derben Humor und anzüglichen Witze bekannt. Da in der Gasstätte vor allem Seeleute abstiegen und abends die Bauern aus der Umgebung zum Trinken herkamen, herrschte dort häufig ein etwas ungehobelter Umgangston und der Gastwirt musste hin und wieder den ein oder anderen Streit unter Betrunkenen schlichten. Zu den Gästen zählten auch viele Durchreisende und das Publikum war manchmal buntgemischt und man konnte auch interessante Gesprächspartner von weit her kennenlernen. Bei einigen Gästen wird es sich offensichtlich auch um Schmuggler und andere Kriminelle gehandelt haben, welche aus unterschiedlichen Gründen einen Bogen um die Stadt gemacht haben.
Der Wirt betrieb das Gasthaus zusammen mit seinen zwei Söhnen Rupo und Elko und seiner Frau Gelda, welche auch als Köchin arbeitete und für ihre köstlichen Fischgerichte berühmt war. Die Familie zeigte immer großen Respekt vor Pyrrhon und Kenji und war sehr religiös.
Die Villa des Aequus
Legende
1. Tempel der Hesinde: Die Darstellung der Statue im Inneren ist eine idealisierte Form der barsavischen Göttin Hesinde. Sie trägt in ihren Händen eine Schriftrolle, welche das Wissen Barsaives symbolisiert.
2. Tempel der Phia: Die Statue der Phia im Inneren trägt ebenfalls eine Schriftrolle in den Händen, welche das Wissen Theras symbolisiert.
3. Atrium der Archonten: In dem Atrium befinden sich für Barsaver eher ungewöhnliche Darstellungen, da hier Archonten wie der strahlende Protogonos (der Zeugungs- und Schöpfungswille), die nackte Gea (die Gebärerin alles Irdischen), der ehrwürdige Cronius (Vater der Zeit) und die finstere Themoria (die ambivalente Bewahrerin der archontischen Ordnung), welche aussieht, als wäre sie eine Mischung aus einem Gott und einem Dämon. Insgesamt ranken sich die Darstellungen um die Themen Leben, Tod und Vergänglichkeit.
4. Große Bibliothek: Die Bibliothek besteht aus einer einzigen, sehr großen Halle. Neben Statuen der Hesinde und Phia, finden sich im Innerem auch einige Darstellungen der barsavischen Enodia und der theranischen Mageia.
5. Statue des Clarus: Der Gott der Künste, der Vollkommenheit und der Erkenntnis ist für Theraner ein beliebter Schutzpatron für Wissen und Forschung.
6. Flügel der Forscher: In dieser Abteilung werden die Forscher und die Gäste der Bibliothek untergebracht. Hier gibt es Forschungsräume und Labore. Abraxa lebte ebenfalls hier.
7. Atrium des Titus Octavius Cycnus: Cycnus war der Stammvater der Octavier. In der Mitte des Atriums befindet sich eine Statue von ihm und einem Schwan, welcher seinen Genius verkörpert.
8. Relief der Octavier: Das Relief stellt eine Schlachtszene aus der Zeit der Uméler-Kriege dar, bei welcher Titus Octavius Cycnus auf einem geflügelten Pferd seine Männer in den Kampf führt.
9. Personalflügel: Hier leben die Sklaven und Angestellten und man findet die Küchen und Haushaltsräume.
10. Privater Flügel: Diese Abteilung der Residenz ist nur der Familie der Octavier vorbehalten und stellt das eigentliche Wohnhaus dar.
11. Sonnenterasse: Die große und teilweise überdachte Terrasse ist ebenfalls privat.
12. Die Ställe
13. Kleines Gymnasion
14. Haus der Wachtruppen
Das Hauspersonal
Die Hausverwalter
Das kinderlos gebliebene Ehepaar Basin und Elwene Hütinger aus Kronstadt wurde bereits vor der Errichtung der Villa von Aequus persönlich eingestellt und mit der Verwaltung des Anwesens beauftragt. Sie kennen das Gebäude also von den Grundmauern an und verfolgten jeden Schritt dessen Erbauung.
Der Hausverwalter Basin hatte bereits in Kronstadt die Pflege über einige Amtsgebäude übernommen und hatte in seiner Jugend selbst einmal davon geträumt, Baumeister zu werden. Jedoch ließ dies sein gesellschaftlicher Stand nicht zu, aber seine Begeisterung für Architektur behielt er aufrecht. Deshalb freute er sich auch sehr, dass er in einem so besonderen und kunstfertigen Gebäude wie der Residenz des Aequus beschäftigt wurde. Von Anfang an besaß er eine große Ehrfurcht vor der Arbeit der theranischen Architekten und betrachtete es als eine Ehre, als man ihm die Verantwortung über die Hauverwaltung der Residenz anvertraute.
Basin und seine Frau Elwene fühlten sich von dem ersten Tag in dem Anwesen wie Zuhause und beide verrichteten ihre Arbeit mit Freude. Sie fanden auch schnell ein sehr familiäres Verhältnis zu den neuen Hausherren und deren Haussklaven, die sie aus Thera mitgebracht hatten.
Die Tätigkeiten der beiden lagen vor allem in der Instandhaltung des Gebäudes, aber auch der Verwaltung des Hauspersonals. Da die Hausverwalterin bereits früher als Angestellte in einigen größeren Anwesen des kronstädter Adels gearbeitet hatte, war sie mit der Organisation des Personals geübt und führte ein strenges Regime im Haushalt der Residenz.
Die Amme
Maura, die Amme der Familie, war eine alte Sklavin mit balmarischer Abstammung. Sie ist bereits als Kind im Besitz der Familie und kann sich selbst an ihre Versklavung nicht mehr erinnern.
Sie hatte bereits die Amme von Aequus bei dessen Erziehung unterstütz und diese dann schließlich abgelöst, als sie zu alt wurde und ihre Arbeit nicht mehr verrichten konnte. Danach begleitete sie Aequus nach Barsaive, als dieser selbst vorhatte, eine Familie zu gründen. Er wollte, dass Maura seine Kinder ebenfalls großzieht, da er große Achtung und Zuneigung für diese Frau empfand.
Maura war eine sehr strenge und disziplinierte Frau und verstand es Kinder zu führen und ihnen Respekt beizubringen. Octavia liebte sie fast wie eine zweite Mutter, da sie immer fair und fürsorglich war, jedoch geriet sie hin und wieder in Konflikt mit ihr, da sie den Kindern sehr viel Eigenständigkeit und Leistung abverlangte. Sie duldete weder Widerworte noch Ausreden und alles, was sie verlangte, musste sofort umgesetzt werden. Mehr als einmal hat Octavia sich deshalb in der Bibliothek hinter den hintersten Regalen versteckt, um den lästigen und unnachgiebigen Anweisungen der Amme zu entkommen.
Der Hauslehrer
Der Lehrer Deron war fast ebenso lange im Besitz der Octavier, wie die alte Amme. Er war jedoch noch älter als diese und hatte bereits dem jungen Aequus seine ersten Schullektionen beigebracht. Er stammte ursprünglich aus Cora und bereits seine Eltern waren Sklaven auf der Insel Thera.
Auch Deron empfand die Familie des Aequus als seine Heimat und besaß enge Bindungen an diese. Für Aequus war er so etwas wie eine Vaterfigur, da dessen eigener Vater sehr früh in einem Einsatz fiel. Also übernahm der Lehrer diese Ersatzrolle für ihn und wurde später zu Aequus‘ engsten vertrauten und Berater. Fast all seine beruflichen und privaten Angelegenheiten besprach er mit seinem alten Lehrer und nahm ihn deshalb mit nach Barsaive. Zusätzlich war es Aequus wichtig, dass Deron auch seine eigenen Kinder unterrichten werde.
Der Mann war ein strenger und kompromissloser Lehrer, schaffte es dabei aber irgendwie immer, seine Schüler zu begeistern, aufzumuntern und in Konzentration zu halten. Außerdem besaß er eine unglaubliche Geduld und ließ nicht locker, bis seine Schüler ihr angestrebtes Ziel erreicht hatten.
Privat war Deron ein gelassener und ruhiger Mann, dem fast nichts aus der Ruhe bringen konnte. Außerdem war er für seine Scherze und Anekdoten bekannt, die er bei Gelegenheit zum Besten gab. Den Kindern konnte er damit immer ein Lachen abringen und alle Erwachsenen empfanden ihn als einen sehr angenehmen und beliebten Zeitgenossen.
Neben der Familie unterrichtete er viele Jahre auch Einheimische im Theranischen, darunter auch Questor Kenji.
Kenjis Hintergrundwissen über die letzten Jahre in Kronstadt
Offizielle Nachrichten über das Attentat (Astoar 347 i.J.P.)
Nach dem Tod von Aequus am 7. Astoar erfuhr Kenji durch die Verkündungen des offiziellen Herolds am 9. Astoar auf den Marktplätzen, dass es weitere Attentate in ganz Barsaive gab und ihnen auch vier andere theranische Botschafter zum Opfer fielen.
Kenji wusste durch sein Allgemeinwissen, dass die anderen Botschafter ihre Residenzen in Ankarz (beim heutigen Parlainthium Novum), Travar, Iopos und Vivane errichtet hatten. Sie waren gemeinsam mit Aqeuus vor über 20 Jahren nach Barsaive gekommen, um den Frieden zu wahren und an guten, diplomatischen Beziehungen für die Zukunft zu arbeiten. Pyrrhon hatte große Hoffnungen in diese Botschafter gesetzt und Kenji hat viel Gutes über ihre Arbeit und die dadurch erreichte Verbesserung des politischen Klimas in ganz Barsaive gehört. Für viele Barsaver, die an einen endgültigen Frieden mit Thera geglaubt hatten, waren diese Attentate also ein schwerer Schlag und allgemein herrschte große Unsicherheit und Angst auf den Straßen, ob der alte Konflikt mit Thera nach so vielen friedvollen Jahren durch diese Morde nun wieder ausbrechen könnte.
Der Herold ließ weiter verlauten, dass der Kronstädter Rat gemeinsam mit Silvius Insidiae, dem Schwager des verstorbenen Botschafters, Ermittlungen gegen die Attentäter in Gang gesetzt hätte. Sie riefen die Bevölkerung von Kronstadt zur Mithilfe auf und es wurde ein hohes Kopfgeld auf die Attentäter und ihre Helfer ausgesetzt. Außerdem sei der Erbe des Botschafters, der junge Augustus Octavius, am 8. Astoar aus Travar angereist und nun der neue Herr der Residenz. Es hieß, dass dieser in Zukunft die Arbeit seines Vaters irgendwann übernehmen würde, aber vorerst den Rat bei der Suche nach den Attentätern unterstützen werde.
Die Stimmung der Bevölkerung
Die Kronstädter waren nach dieser Nachricht geschockt und alle waren ehrlich betroffen durch den Tod des Botschafters. Viele rätselten nun jedoch herum, wer diese Attentäter sein sollten und warum sie ein Interesse daran haben sollten, den Frieden mit Thera zu stören.
Nach und nach verbreitete sich auf den Straßen das Gerücht, dass es sich um einige altgediente Veteranen handeln solle, die eine Gruppe gegründet hätten, um die Theraner endgültig aus Barsaive zu vertreiben. Angeblich handle es sich bei ihnen um hochtraumatisierte Männer, die fanatisch dafür kämpfen würden, dass kein Theraner jemals wieder barsavischen Boden betritt. Einen echten Beweis für die Existenz einer solchen Gruppe hat Kenji jedoch niemals irgendwo bekommen.
Weiterhin hieß es, dass Graltik hinter den Anschlägen stecken würde. Jeder weiß, dass er die Theraner auch nicht gern in Barsaive sieht und einige behaupteten, dass seine Männer hinter all dem stecken. Von offizieller Seite wurde jedoch auch dieser Verdacht nie bestätigt.
Auch wenn also zuerst kein direkter Schuldiger gefunden werden konnte, so waren jedoch alle wütend und schrien nach jemanden, den sie bestrafen könnten. Dass Silvius Insidiae hinter all dem steckte, war damals nicht abzusehen (auch für Kenji nicht) und als trauender Schwager und besorgter Onkel spielte er sich in der Öffentlichkeit sogar als Opfer auf und zog die Sympathien der Bevölkerung und Ratsherren auf sich. Kenji konnte mit seiner Menschenkenntnis damals schon bemerken, dass Silvius ein großer Blender und Meister der Manipulation ist. Wahrscheinlich hat Kenji ihn ab und zu bei öffentlichen Ansprachen gesehen oder kam mit ihm flüchtig über die Ratsmitglieder in Kontakt, welche auch eng mit dem Tempel zusammengearbeitet haben. Außerdem wird er ihn vor dem Tod des Aequus auch immer häufiger in dessen Residenz angetroffen haben.
Kenjis Gefühl
Kenji wird wahrscheinlich schon etwas von Silvius hinterhältigen Absichten geahnt haben, da ja auch Pyrrhon vor seinem Tod bereits darauf hinwies, dass sich etwas Unheilvolles über der Familie der Octavier zusammenbraut. Er wird noch nicht genau gewusst haben, welche Rolle Silvius spielt oder ob dieser tatsächlich fähig gewesen wäre, die ganze Familie seines Schwagers töten, aber Kenji wird der Geschichte von den Attentätern wahrscheinlich von Anfang an sehr skeptisch gegenübergestanden haben. Eine sinnvolle Erklärung für die Ereignisse hatte er jedoch auch noch nicht.
Kontakt zu dem Anwesen
Falls Kenji versucht hat, Augustus nach dessen Ankunft in Kronstadt in der Villa zu besuchen, um z.B. sein Beileid wegen dem Verlust seiner Familie auszusprechen, wird Kenji jedes Mal von Bediensteten vertröstet und wieder fort geschickt worden sein. Er wird Augustus nie zu Gesicht bekommen haben und hatte auch nicht das Gefühl, dass jemand seinen Besuch bei ihm angekündigt oder davon berichtet hat.
Eventuell hat Kenji in diesem Zusammenhang sogar einmal mit Spurius Iunius (Sabaoth Immortalis) gesprochen oder wurde sogar persönlich von diesem abgewimmelt, als er versuchte den jungen Hausherren zu sprechen. Falls er es weiterhin versucht hat, wird man ihm irgendwann gesagt haben, dass Augustus ihm für sein Beileid danke, aber keine Zeit habe den Questor zu empfangen. Kenji hätte sich in diesem Fall damals sehr über das Verhalten von Augustus gewundert, da er diesen immer als höflichen und freundlichen jungen Mann in Erinnerung hatte und sein abweisendes Verhalten nicht zu dem passte, was sein Vater ihm eigentlich über Etikette beigebracht hatte.
So brach für Kenji der Kontakt zu der Residenz vollkommen ab und er hatte keine Ahnung mehr, was sich in der Villa von nun an abspielte. Er wusste, dass Silvius mit Augustus noch mehrere Wochen oder sogar Monate dortblieb und sie sich komplett von der Außenwelt abschotteten, während sie ihre Ermittlungen gegen die Attentäter durchführten. Augustus, der in Kronstadt eigentlich beliebt war und immer einen guten Ruf genoss, mied die Stadt und wurde nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Nach Außen sprach nur noch Silvius für ihn.
Kenji fand dies alles sehr merkwürdig und auch verdächtig, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was die beiden in dem abgelegenen Anwesen im Schilde führen würden.
Die Suche nach den Attentätern (Choar 347 i.J.P.)
In den folgenden Wochen hörte Kenji immer wieder davon, dass sich das Netz der Attentäter angeblich weiterspinnt, als man es vorerst angenommen hatte. Angeblich sei bereits ein Ratsmitglied, der Graf Drelan zu Lohberg, überführt worden, dass er sich mit einigen anderen Ratsmitgliedern an einer Verschwörung gegen die theranischen Botschafter beteiligt habe. Dieser sei vom Rat vom Kronstadt und dem Theranischen Imperium zu Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde bereits am 2. Choar im kleinen Rahmen vollstreckt.
Kenji wird sich damals gewundert haben, warum der Rat von Kronstadt den Tempel des Mynbrujes nicht bei diesem wichtigen Urteil miteinbezogen hat. Indirekt haben sie nämlich damit den Bund von Throal hintergangen, mit welchem sie sich ursprünglich verpflichtet haben, den Rat der Questoren bei allen wichtigen Prozessen einzuholen. Wenn Kenji sich erkundigt hat, warum man den Tempel und Mynbruje bei diesem Prozess außen vorgelassen hat, wird man ihm von Seite der Ratsmitglieder gesagt haben, dass dies auf Wunsch der Theraner geschah. Hat er genauer nachgehakt, hat er erfahren, dass dies auf ausdrücklichen Wunsch von Silvius Insidiae erfolgte und man befürchte, dass ein Krieg ausbrechen könnte, wenn man nun nicht mit Thera kooperiert.
Auch aus den weiteren Ermittlungen und Prozessen um die Attentate hielt man den Tempel und die Questoren plötzlich heraus und es lag an Kenji, ob er dagegen vorgegangen ist oder sich zurückgehalten hat. Hat er Ersteres versucht, wird man ihn von Seite des Rats immer wieder versucht haben bewusst zu machen, dass Kronstadt keine andere Wahl habe, wenn es nicht zu einem Konflikt mit Thera kommen soll. Immerhin sei bereits ein Ratsmitglied der Mitschuld überführt worden und der Frieden hänge davon ab, wie man sich nun den Theranern gegenüber verhält.
In den folgenden Wochen fanden schließlich noch weitere Verurteilungen statt, von denen Kenji nur von den Marktschreien erfuhr. Angeblich hätten weitere Ratsmitglieder gestanden, dass sie das Netzwerk der Attentäter unterstützt hätten, weshalb auch sie hingerichtet wurden.
Bis zum 15. Choar wurden insgesamt fünf weitere Ratsmitglieder hingerichtet und nach und nach eine immer größere, angebliche Verschwörung aufgedeckt, die jedoch sehr seltsam und unnachvollziehbar für Kenji erschien, da er genau wusste, dass einige der beschuldigten Ratsmitglieder treue und aufrichtige Freunde von Aequus gewesen waren, welchen er nie zugetraut hätte, dass diese den Botschafter hintergehen würden.
Botschafter Vorax (Hesoar 347 i.J.P.)
Nach einigen Wochen gab es am 1. Hesoar in Kronstadt eine öffentliche Ansprache, bei welcher ein neuer, vorübergehender Botschafter eingesetzt wurde, der die Arbeit des Aequus übernehmen sollte, bis der junge Augustus seinen Militärdienst abgeschlossen habe (also frühestens in ca.10 Jahren) und das Amt seines Vaters übernehmen könne. Um diesen der Bevölkerung vorzustellen, veranlasste der Kronstädter Rat zur Amtseinführung eine kurze Vorstellung auf dem großen Marktplatz. Dabei sah Kenji auch kurz Augustus, der selbst auf der Bühne eine kurze Rede hielt und den Botschafter Vorax offiziell als seinen vorrübergehenden Stellvertreter einsetze. Augustus wirkte bei der Rede kalt und pragmatisch und verschwand sofort von der Veranstaltung, nachdem er seinen Pflichtteil hinter sich gebracht hatte.
Der neue Botschafter schien auf den ersten Blick sehr schwer einzuschätzen, aber Kenji vermutete gleich, dass es sich bei diesem um einen ähnlichen Blender wie bei Insidiae handeln müsse.
Der Feldzug von Insidiae (Noar 347 i.J.P. –Boar 348 i.J.P.)
Kurz nachdem Vorax sein Amt angetreten hatte, verkündete man in der Stadt, dass Insidiae gemeinsam mit Augustus am 13. Noar zu einem Feldzug nach Lüderitz aufgebrochen wäre, da man dort das Hauptquartier der Attentäter ausfindig gemacht hätte. Kenji hörte nun von vielen blutigen Kämpfen, da es hieß, dass Silvius und seine Männer von den Verschwörern und ihren Söldnertruppen angegriffen wurden und sich einige der Attentäter in den umliegenden Ortschaften von Lüderitz verstecken würden und es deshalb auch immer wieder zu Gefechten mit Zivilisten kam, die sich weigerten, die gesuchten Mörder auszuliefern. Es hieß, dass bei diesen Scharmützeln ganze Dörfer ausgelöscht wurden.
Schließlich erfolgte die Belagerung von Lüderitz und Silvius wandte sich persönlich an Throal und forderte den Zwergenkönig und seine Bündnispartner auf, Lüderitz unter Druck zu setzten, damit sie die Attentäter ausliefern. Falls sie ihn nicht unterstützen würden, müsse er die Stadt angreifen, um die Verbrecher zu stellen. Der Bund von Throal fand keinen Grund den Worten Insidiaes nicht zu glauben, da auch sie keine Erklärung dafür hatten, wer die Botschafter aus Thera umgebracht hatte. Als Lüderitz jedoch beteuerte, dass sie keine Verschwörer oder Mörder verstecken, glaubte der Bund von Throal ihnen nicht und lieferte die Stadt dem Angriff von Silvius Männern aus, da der Bund und sogar der Zwergenkönig den langwährenden Frieden mit Thera nicht gefährdenden wollten. Also ließen sie sich von Silvius täuschen und die Stadt im Stich.
Deshalb kam es schließlich am 3. Floar 348 i.J.P. zu der großen Eroberung von Lüderitz, welche Silvius triumphierend einnahm, indem er eine kleine Elite-Truppe durch ein Portal in die als uneinnehmbar geltende Stadt einschleuste und dieser sich mit brutaler Härte einen Weg zum Regierungsgebäude durch die Zivilbevölkerung bahnten und dort die verschanzten Attentäter stellten.
Man wird allgemein vermutet haben, dass Augustus als einer der besten Kämpfer von Silvius bei diesem Trupp dabei war, jedoch wurde nie offiziell bestätigt, dass es sich bei ihm auch um den legendären „Principus Mortis“ gehandelt hat, der diesen Trupp anführte und nach dieser Schlacht für seine Brutalität und Skrupellosigkeit in ganz Barsaive bekannt und gefürchtet wurde und seinen grausamen Titel und den Ruf als „Schlächter von Lüderitz“ nach einem großen und unmenschlichen Massaker bei der Eroberung von Lüderitz erhielt, bei der niemand von der Zivilbevölkerung geschont wurde.
Die Taten des dunklen Feldherrn von Silvius versetzten damals ganz Barsaive in Angst und Schrecken und erinnerten alle daran, dass die Theraner wieder ein schrecklicher Feind werden können. Silvius nutzte diese Furcht, um seine weitere Macht darauf aufzubauen und die Eliten Barsaives einzuschüchtern. Er machte aus der wahren Identität von Principus Mortis ein großes Geheimnis und trug so noch zu dem mythischen Ruf seines geheimnisvollen, schwarzen Champions mit der Totenkopfmaske bei. Von Augustus hörte man in Kronstadt hingegen fast gar nichts mehr.
Die Verschwörung der Attentäter galt nach der Eroberung von Lüderitz fast als aufgedeckt und wieder wurden einige vermeintliche Schuldige hingerichtet, die angeblich nach langen Verhören gestanden hatten.
Eine letzte Spur zu einem Schuldigen, führte in den Süden nach Metz. Da die Stadt sich angeblich weigerte, den Verschwörer auszuliefern, hörte man von einer großen Schlacht am 8. Boar 348 i.J.P. bei Drogheda, bei welcher die Theraner versuchten Metz anzugreifen und von den Truppen der Stadt auf dem Weg abgefangen wurde. (In dieser Schlacht kämpften auch Adarian und Octavia gegen Silvius Truppen mit.)
Anschließend sollen Insidiaes Truppen Probleme mit den nomadisierenden Stämmen der Steppenorks bekommen haben, welchen es schließlich am 20. Boar 348 i.J.P. gelang, ihn, seine Truppen und auch Augustus zu besiegen und zu töten. Dies war das letzte, was Kenji von Augustus gehört hat, bis er von Octavia erfuhr, was damals wirklich mit ihm geschehen war.
Gerüchte über Principus Mortis
Nachdem Principus Mortis durch sein großes Massaker während der Eroberung von Lüderitz eine grausame Berühmtheit in Barsaive erlangte, hörte man überall schreckliche Geschichten um den dunklen Schlächter. Es gab etliche traumatisierte Augenzeugen seiner Gräueltaten und alle konnten bestätigen, dass er ein Mensch ohne jede Skrupel gewesen sein muss. Er habe bei der Erstürmung von Lüderitz vor niemanden Halt gemacht, der sich ihm in den Weg stellte, ganz gleich ob es ein Soldat, eine Frau oder ein Kind war. Deshalb bekam er von seinen eigenen Männern auch den Beinamen „Principus Mortis“, da er beim Töten keine Ausnahmen machte und selbst wie eine prinzipielle Verkörperung des leibhaftigen Todes erschien.
Er wirkte vollkommen gewissenlos und ließ weder mit sich reden noch sich von seinem Ziel abbringen, die Stadt einzunehmen und die vermeintlichen Attentäter der Botschafter zu finden. Als er sich durch die Straßen von Lüderitz geschlagen hat, soll nichts und niemand es geschafft haben, ihn aufzuhalten und er soll so schnell und aggressiv gekämpft haben, dass die Verteidiger der Stadt sich nicht trauten, sich ihm in den Weg zu stellen und sich teilweise sogar vor Angst versteckten oder die Flucht ergriffen.
Man sagt, dass es bei der Eroberung von Lüderitz zu einer erschreckend großen Zahl von getöteten Zivilisten kam, da Principus Mortis seinen Männern befahl, sofort jeden umzubringen, der nicht bedingungslos kooperierte und sich ihm auf Knien unterwarf.
Er ließ auch eine ganze Reihe von Gefangenen foltern und töten, um die Stadt und ihre Regenten unter Druck zu setzten sie zu zwingen, die Attentäter auszuliefern. Dazu sollen auf dem großen Marktplatz in Lüderitz eine Vielzahl von wichtigen Persönlichkeiten aus Lüderitz hingerichtet worden sein, bis schließlich jemand die gesuchten Attentäter ausgeliefert hat.
Bei seinen vielzähligen „Verhören“ soll Principus Mortis nicht davor zurückgeschreckt haben, auch die Familien seiner Opfer zu foltern oder zu töten, damit er an die gewünschten Informationen gelangen könnte. Dabei soll er weder eine Gefühlsregung noch einen Funken Mitgefühl gezeigt haben. Er sei nur an seinem Ziel interessiert und alle Mittel seinen ihm recht gewesen, um dieses zu erreichen.
Einige behaupten deshalb, dass sich unter der finsteren Totenkopfmaske kein fühlender Mann, sondern ein Wesen aus Abyssia befände, welches Silvius sich unterworfen habe. Einige behaupteten sogar, dass er gar kein Gesicht habe und der kalte, silberne Totenkopf sogar sein wahres Antlitz wäre oder das er ein unsterblicher Geist des Schreckens sei. Es ranken sich auch Gerüchte um seine Elite-Truppe, welche ihn überall hinbegleitete. Man behauptete damals immer wieder, dass diese angeblich unsterblich seien, da noch nie jemand gesehen hat, wie einer von Principus Mortis Männern getötet worden sei.
Auch das Verschwinden von Principus Mortis und seinen Männern ist sehr geheimnisvoll und niemand wusste damals genau, wie die Orks es geschafft haben, ihn aufzuhalten. Auch bei dem Tod von Silvius Insidiae gab es keine Augenzeugen und die Leichen beider Theraner sind weder aufgefunden, noch von Angehörigen aus Thera suchen lassen worden. Jedoch wurden ihre Truppen vollkommen von den Orks aufgerieben.
Veränderungen in Kronstadt (Noar 347 i.J.P. – Myloar 349 i.J.P.)
Kurz nachdem Insidiae und Augustus am 13. Noar 347 i.J.P. die Stadt verlassen hatten, bemerkte Kenji, dass sich in Kronstadt viele negative Veränderungen anbahnten und der Rat der Stadt langsam unter die Kontrolle von Vorax geriet. Am 2. Loar wurde das erste Dekret erlassen, welches den Questoren die Rechtsprechung verbot und sie auf seelsorgerische Tätigkeiten beschränken wollte (s. Comic).
Kenji führte seine Rechtsprechungen von nun an also heimlich weiter und bekam mit, dass sich auch ein großer Konflikt mit Throal und den anderen verbündeten Stadtstaaten in Barsaive anbahnte, da diese es nicht einfach dulden konnten, dass Kronstadt gegen ihr altes Bündnis verstößt, welches sie dazu verpflichtet, den Rat der Questoren anzuhören, bevor sie ein Urteil aussprechen.
Kenji hörte nun auch immer wieder Gerüchte, dass Vorax die Ratsmitglieder gekauft habe und sie als seine Marionetten benutze. Er bekam immer mehr das Gefühl, dass Vorax der heimliche Herrscher der Stadt sei.
Kurz nachdem Kenji dann im Myloar 349 i.J.P. fliehen musste, nachdem seine illegalen Rechtssprüche aufgeflogen waren, hört er, dass es am 14. Biloar zu einem endgültigen Bruch zwischen Kronstadt und Throal kam, da der Rat von Kronstadt seine Rechtsprechung nach theranischem Vorbild umgewandelt hatte und den Questoren jeglichen Einfluss entzog, der ihnen durch den Bund von Throal legitim zustand. Also wurde Kronstadt durch Abstimmung aus dem Bündnis verstoßen und da die Stadt ohne den Schutz der barsavischen Flotten den Angriffen der Piraten und Plünderern ausgeliefert wäre, schloss der Rat von Kronstadt sich offiziell dem Theranischem Imperium an. Nun galt Kronstadt als Provinzstadt und Kenji hörte durch das Gerede in den Dörfern, durch welche er reiste, bevor er die anderen Helden traf, dass der Statthalter Vorax unverschämte Steuern erhoben habe und sich in Kronstadt als Tyrann aufspiele.
Kenjis Gebet in der Nacht zum 22. Loar 351 i.J.P.
Als Kenji sich zum Beten hinsetzte, erhielt er vorerst kein Zeichen von Mynbruje.
Dann überkam ihn das Gefühl, dass Mynbrujes Abwesenheit gewollt ist und dass sein Gott ihn prüfen will. Plötzlich hatte er seinen alten Lehrmeister Pyrrhon vor Augen. Dieser war noch jünger und Kenji vermutete, dass es eine Erinnerung an die Zeit ist, kurz nachdem er als Straßenjunge von ihm eine zweite Chance bekam und in den Tempeldienst trat. Pyrrhon legte ihm aufmunternd die Hand auf die Schulter und nickte ihm zuversichtlich zu. Kenji fühlte sich dabei sehr geborgen und gestärkt.
Dann hatte er plötzlich das Gefühl zu fliegen. Er blickte unter sich und sah Kronstadt. Kenji flog über den Mynbrujetempel und den großen Marktplatz und schließlich verließ er die Stadt und flog weiter zu der Villa von Octavias Vater. Dort landete er vor einem Fenster der Bibliothek und konnte die junge Octavia erkennen, die gerade eine Kerze anzündet und sich vermutlich Licht zum Lesen macht. Plötzlich stellte sich die Schärfe seines Blickwinkels um und er konnte seine Spiegelung in der Fensterscheibe sehen. Er sah genau hin und erblickte einen großen, weißen Greif. Dann brach das Bild ab.
Kenji sah dann wieder Pyrrhon, welcher alt und schwach in seinem Bett im Tempel von Kronstadt liegt und gerade am Sterben ist. Er krümmte sich zusammen und sein sich auflösender Körper floss zu etwas zusammen, was sich in einen blutigen Tropfen verwandelt: die Drachentränen. Doch plötzlich wurden diese wieder flüssig und verwandelten sich in den Greif, den er zuvor in der Scheibe gesehen hatte. Diesmal war der Greif jedoch rot und nicht mehr weiß. Kurz vor dem Ende der Nacht hörte Kenji plötzlich Pyrrhons Stimme in seinem Kopf. Er sagte: „Folge stets dem Pfad des Greifens, denn nur er kann dich zu deiner inneren Wahrheit führen!“
Geschichte von Kenjiro Asai
Geburt und frühes Kindesalter (314 - 318 i.J.P.)
Kenji, eigentlich Kenjiro (- "zweitgeborener mit dem zweiten Gesicht") wurde am 12. Hesoar 314 i.J.P. geboren. Seine Eltern, verhältnismäßig einfache Händler, hatten ihr bescheidenes Haus in Dol Vadit aufgegeben, um eine Überfahrt zum Nordkontinent Aloran erkaufen zu können. Kenjiro wurde während eines schweren Sturmes auf hoher See geboren. Eine Seherin hatte seiner Mutter davon abgeraten, hochschwanger eine solche Reise auf sich zu nehmen. Wenn ihr Kind nicht in Ishtur geboren würde, werde ihm etwas Wichtiges fehlen. Selbst wenn er das Erwachsenenalter erreichte, würde sein Leben von der Suche nach dem Verlorenen geprägt sein und ihm jedes andere erreichbare Glück verwehren. Doch fürchteten die Asais, ohnehin verflucht zu sein.
Kenjis großer Bruder, einige Jahre zuvor geboren, war stets kränklich gewesen und von schwacher Statur. Er hatte sein drittes Lebensjahr nicht erleben dürfen; Nach einem wichtigen Handelsabschluss der Asais in madrasischem Gebiet, der ihrer beider Anwesenheit erfordert hatte, kehrten sie zu der Tante zurück, die auf den kleinen aufgepasst hatte. Sie konnte nur noch berichten, wie sie ihn des Nachts plötzlich aus seinem Zimmer schreien hörte. Doch als sie zu ihm rannte, war er bereits erstickt; sie konnte nichts tun, als die offenen Augen seines blauen kleines Gesichts zu schließen. Die Asais hatten also entschieden, die verfluchte Erde Ishturs hinter sich zu lassen, um dem kommenden Nachwuchs eine bessere Chance auf ein Leben schenken zu können. Die Überfahrt dauerte lange und kostete alle Kraft der Asais, doch schließlich erreichten sie die Westküste Barsaives.
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes entschieden sich die beiden, eine Weile in Veltima zu bleiben, da Kenjis Mutter große Furcht hatte, er könnte so schwach sein wie sein älterer Bruder. Sie freundeten sich schnell mit den barsaver Anwohnern an und nutzen schließlich ihren Sonderstatus bei den Theranern aus, um der vom herrschenden Krieg gezeichneten Bevölkerung im Kleinen zu helfen.
Obwohl die Geschäfte zunächst gut liefen, verschlechterte sich mit der Zeit die finanzielle Situation der Familie. Der Krieg in Barsaive neigte sich dem Ende und die Theraner gaben sich alle Mühe, um den strategisch wichtigen Hafen der Stadt zu halten. Die barsavische Flotte versuchte nämlich bereits den Hafen zurückzuerobern und es kam zu einigen Schlachten, welche die Stadt ins Chaos zu stürzen drohte. Während der Kämpfe blieben die fahrenden Händler fern und Veltimas Geschäfte konnten sich nicht mehr mit neuen Waren beliefern lassen. Es kam zu Versorgungsproblemen in der gesamten Stadt.
Die Situation spitzte sich deutlich zu, als Kenji kurz vor seinem vierten Geburtstag stand. Es war das letzte Kriegsjahr und alle litten unter der Versorgungsproblematik. Ein angesehener Politiker und Mitglied des Kronstädter Rats suchte den befehlshabenden Offizier der Theraner in Veltima auf, um ihn um Unterstützung zu bitten und die sich ausbreitende Hungersnot unter der Bevölkerung zu stoppen, indem er einen Teil, der immer noch mehr als ausreichend vorhandenen Getreidevorräte seiner Legionäre, an die Stadt abgibt.
Der Offizier – ein Mann, der auch unter den Theranern für seinen Jähzorn bekannt war – erwiderte nur, dass solange seine Truppen versorgt sind, es ihm gleichgültig sei, ob die Menschen in Veltima verhungern. Diese kaltherzige Abfuhr brachte den frustrierten Politiker zu einer Verzweiflungstat und er begann auf den Offizier einzuschlagen und ihn anzuschreien. Dieser jedoch reagierte auf den hoffnungslosen Angriff des wütenden Mannes, indem er seine Leibgarde rief, welche den Mann kurzerhand töteten.
In dem Städtchen wussten alle, worum der Politiker den Offizier gebeten hatte und als man in Veltima von seinem Tod erfuhr, forderte die ehemalige Elite einen gerechten Prozess gegen den Offizier, der jedoch von dem Feldherrn in Travar - dem Vorgesetzten des herzlosen Offiziers - kommentarlos abgelehnt wurde.
Diese Ignoranz von theranischer Seite und der quälende Hunger sorgte schließlich für Aufstände in der Stadt. Die Bevölkerung verweigerte den Theranern sämtliche Hilfe, egal mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatten. Außerdem sabotierten sie die theranische Flotte und einige Mutige griffen die verhassten Besatzer sogar an und es kam zu mehrtägigen Straßenkämpfen im Hafenbezirk.
Der Anführer des Aufstandes war der Bruder des getöteten kronstädter Politikers. Er war als Held und Freiheitskämpfer unter den Barsavern bekannt und er führte die Kämpfe am Hafen an. Nachdem die Theraner den Aufstand jedoch niederschlagen konnten, floh der verwundete Rebellenanführer und tauchte in der Stadt ab, wo ihn die theranischen Truppen überall suchten.
Durch einen Zufall fand der verletzte Mann seinen Weg zu Kenjis Eltern, die sofort wussten, um wen es sich bei ihm handelt. Trotz der Gefahr entschlossen sie sich dazu, ihm Zuflucht in ihrem Haus zu gewähren. Doch es dauerte nicht lange und plötzlich standen die Legionäre vor ihrer Tür. Sie riefen den Offizier hinzu und dieser versuchte Kenjis Eltern unter Druck zu setzten, damit sie den Aufständler ausliefern. Kenjis Eltern versuchten mit wohl überlegten Worten den Offizier zu beruhigen und eine Einigung für das Problem zu finden. Die besonnenen Worte des fremdländischen Paares bewirkten jedoch das Gegenteil und der aufbrausende Offizier verlor immer mehr von seiner Geduld. Er drohte Kenjis Mutter zu töten, wenn sie nicht kooperieren würden und setzte seine Worte auch umgehend in die Tat um, nachdem Kenjis Vater abermals versuchte, den Offizier zu beruhigen, indem er an die theranische Vernunft appellierte. Er selbst wurde in den Kerker gesteckt; der Anführer des Aufstands wurde ohne Prozess noch an Ort und Stelle hingerichtet.
Als das Städtchen von dieser neuen Gewalttat erfuhr, brach ein drei Tage andauernder Tumult aus, bei dem zwölf Widerstandskämpfer starben und etliche Legionäre verletzt wurden. Da die Theraner nun Probleme hatten, die Hafenstadt halten zu können, entschied sich der Feldherr in Travar schließlich für ein Bauernopfer und beendete den Konflikt, in dem er den schuldigen Offizier öffentlich hinrichten ließ und den Witwer der Getöteten eine finanzielle Entschädigung zusprach. Doch Kenjis Vater starb noch in der selben Nacht im Kerker von Veltima, völlig von Sinnen und entkräftet. Er hatte den Tod seiner Frau nicht verkraftet.
Kenji indes, zuvor von dem Zug ignoriert, wurde während des dreitägigen Tumults von einer jungen Frau aus dem Städchen ins Tage entfernte Kronstadt gebracht, wo er sicher sein sollte vor dem Zorn des Offiziers. Da sie kein Geld hatte, legte sie ihn einfach vor einen Mynbruje-Tempel und verschwand. Kenjis selbst erinnert sich nur sehr bruchstückhaft an diese dunklen Tage; über die Jahre hat er die Bilder vollständig verdrängt.
Kindheit im Tempel in Kronstadt (318 - 321 i.J.P.)
Die nächsten Jahre, bis zur Nacht vor Kenjis siebten Geburtstag, verbrachte dieser im Tempel bei seinem späteren Meister Pyrrhon von Lis. Zunächst hielt er nicht viel auf das kleine Bündel, das ihm die Fremde vor die Schwelle gelegt hatte. Er beschwerte sich über die Unannehmlichkeit bei seinem Freund und Mentor Archorbar, der gerade für einige Tage in der Stadt verweilte. Er sei ein Geistlicher, genügend mit dem Pfad der Passionen, den Dummheiten der Menschen und der Erhaltung des Tempels beschäftigt. Es gäbe sicher bessere, sich um ein kleines Kind zu kümmern, als einen kauzigen Tempelvorsteher, der in seinem Leben keiner Frau nahegekommen war und sich nicht erinnern konnte, von seiner Mutter etwas von der Liebe bekommen zu haben, die er einem Dreikäsehoch wie diesem zweifellos schuldete, wenn er sich denn darum kümmern würde. Das beste sei es, eine Schwester im nächsten Garlentempel die Aufgabe zu übertragen.
Doch Archorbar in seiner riesenhaften Statur beugte sich über das winzige, schlafende Kleinkind und betrachtete es. "Wie ich hörte gab es in Veltima einen Aufstand, der von den Theranern dort blutig niedergeschlagen wurde. Unter den Toten waren auch Ishturi." Pyrrhon blickte auf. "Dann könnte er von dort stammen. Sicher gibt es in Veltima jemanden, der sich um in kümmern kann." Archorbar schüttelte langsam, aber nachdrücklich seinen schweren Kopf. "Sieh ihn dir genau an. Er ist wie wir. Es gibt nichts, wohin er zurückkehren könnte. Seine Leben liegt in den Händen der Götter. Und wer immer ihn hergebracht hat, tat das in voller Absicht. Du hast immer gesagt, mein Freund, du glaubst an eine Aufgabe, die die Passionen dir stellen werden. Willst du deine Chance ausschlagen, jetzt wo sie sich dir bietet, weil sie dir nicht genehm scheint?"
Pyrrhon betrachtete den kleinen Kenji erneut. Archorbar hatte wie immer recht. "Nun gut. Aber wenn er größer wird, wird er eine Menge Fragen haben. Fragen, die ich nicht beantworten kann." "Ist das nicht das täglich Brot eines Questors? Du sollst ihm keine Antworten erfinden, so wenig wie du es für deine Schäfchen in Kronstadt tust. Du sollste für ihn da sein und ihm beibringen, die richtigen Fragen zu stellen. Und wenn du es gut machst, gibst du ihm die Werkzeuge, eines Tages selbst nach den Antworten zu suchen." Da schlug Kenji die Augen auf. "Mama?" Pyrrhon von Lis seufzte. "Dein Wort in Hesindes Ohr, alter Freund."
Der Questor gab sich alle Mühe, dem jungen Ishtur beizustehen. Aber er war kein Vater und wollte auch nicht so tun, als wäre er plötzlich einer geworden. Also behandelte er den kleinen Jungen mit aller Güte und Nachsicht; doch nicht als Sohn, vielmehr als jungen Lehrling. An diese ersten Jahre erinnert sich Kenji nicht. Im Jahre 326 i.J.P. musste Meister Pyrrhon den Tempel für einige Tage verlassen, um bei einem Konvent in Urupa anwesend zu sein. Der Junge war noch sehr klein, aber schon recht selbstständig, daher entschied er sich dagegen, ihn mit auf die Reise zu nehmen, um Kenji die Langeweile und sich selbst die zusätzliche Belastung zu ersparen. Er bläute dem Siebenjährigen ein, den Tempel nicht zu verlassen und keinem Fremden zu öffnen. Außerdem bat er eine junge Frau, die regelmäßig zur Andacht erschien und ihm einen guten Eindruck machte, jeden Tag nach Kenji zu sehen.
Zu allem Unglück war die junge Frau verliebt. Zwei Tage später, Pyrrhon war längst abgereist, lief der junge Kenji durch den Tempel, auf der Suche nach einem Buch, aus dem Pyrrhon ihm vorgelesen hatte. In einem der hinteren Räume gaben sich das Mädchen und ihr Liebhaber gerade dem Liebesspiel hin. Doch alles was der kleine Junge sah und hörte war der behaarte, nackte Rücken des Mannes, der sich drohend über das entblösste Mädchen beugte und ihre stöhnenden, in seinen Ohren schmerz- und angsterfüllten Laute.
Also nahm er allen Mut zusammen und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, einem Kandelaber, und schlug ihn mit der ganzen Kraft eines Siebenjährigen auf den Rücken des vermeintlichen Angreifers. Dieser heulte auf und fuhr herum. Natürlich war er nicht wirklich verletzt, aber in seinem blinden Schmerz fuhr er herum und schlug nach dem Angreifer. Kenji fiel und Blut spritzte aus seiner Nase. Nun waren es echte Schreckensschreie, die dem Mädchen entfuhren.
"Was hast du getan?", schrie sie ihren Freund an, der ebenso schreckerfüllt zu dem kleinen Jungen blickte. "Ich, ich hab ihn doch nicht gesehen!"
Doch da war Kenji schon aufgesprungen und weggelaufen. Wer war dieser schreckliche Mann? Warum hatte Pyrrhon zugelassen, das er in den Tempel kam und das Mädchen und ihn angriff? Heulend lief Kenji aus dem Tempel, der nicht mehr sicher war, den Pfad hinab in das Stadtinnere.
Als Pyrrhon von Lis einige Tage wiederkehrte, erzählte das Mädchen unter Tränen, dass sie auch nicht wisse, was genau passiert sei. Aus Angst vor Bestrafung log sie dem Questor etwas vor. Tatsächlich hatte ihr Liebhaber in der ganzen Stadt nach dem Jungen gesucht, während Kenji sich unter Todesangst hinter Fässern, in dunklen Gassen und in Häuserschluchten vor ihm versteckt hatte. "Junge, komm zurück in den Tempel, dir passiert auch nichts!" Auf diese Falle würde Kenji sicher nicht hereinfallen...
Pyrrhon war außer sich vor Wut, auf das Mädchen, weil es offensichtlich log, aber auch auf sich, weil er sie so falsch eingeschätzt und Kenji im Stich gelassen hatte. Er lief durch den Tempel, wie um sich selbst davon zu überzeugen, das Kenji fort war. Kurz darauf konfrontierte er das Mädchen mit den Resten des zerbrochenen Kandelabers. Er fragte sie nach dem Usprung des Schadens und dem getrockneten Blut auf dem Tempelboden.
Das Mädchen heulte noch laute. Sie schluchzte etwas von einem Mann, der Kenji angegriffen hatte, davon, wie der Junge versucht hatte, den Mann anzugreifen und wie er hinter dem fliehenden Kenji hergelaufen sei. In seiner Erregung entgingen Pyrrhon die Nuancen dieser Worte und er nahm sie für wahr. Er scheuchte das Mädchen fort und machte Erkundigungen. Er fand schnell heraus, dass der Mann tatsächlich in der Stadt nach einem Jungen gesucht hatte, Leute hatten ihn rufen hören. Tatsächlich hatte er aus Angst vor der Wut des Questors die Stadt verlassen; da er aber niemandem davon erzählt hatte, blieb er für Pyrrhon einfach unauffindbar. Dieser indes kehrte verzweifelt zum Tempel zurück, vom Tod es Jungen überzeugt. Er hatte versagt.
Das ein so auffälliger Junge wie der Ishtur Kenji mit seinen zarten sieben Jahren niemandem auffiel, hatte eine verblüffend einfache Erklärung. Während er sich mehr schlecht als recht vor dem Liebhaber des Mädchens versteckt hatte, hatte er jemanden auf sich aufmerksam gemacht. Ein Junge, nicht viel älter als Kenji, dreckverschmiert und einen Kopf größer, zog ihn plötzlich noch tiefer in die Dunkelheit und hielt ihm den Mund zu.
"Keine Angst, ich verrat dich nicht. Hab gesehen wie du dich vor dem Typ da versteckst. Ich zeig dir einen Ort, wo er dich garantiert nicht findet."
Und so hatte Kenji Ratte getroffen, den Anführer der Straßenkinder von Kronstadt.
Kenji das Straßenkind (322 - 327 i.J.P.)
Niemand in Kronstadt konnte genau sagen, wieviele Straßenkinder sich durch den Alltag bettelten und stahlen. Der Krieg gegen die Theraner war hier weniger blutig verlaufen als an manch anderer Stelle; doch nicht zuletzt die strategisch wichtige Lage zur Küste sowie die Tapferkeit der Barsaver, bei der Männer wie Frauen sich für ihre Heimat opferten hatte dazu geführt, dass am Ende der Kampfhandlungen eine nie gekannte Menge an Waisen in und um die Stadt zurückblieben.
Sie erledigten kleine Aufgaben, trugen Einkäufe, wuschen Füße und wienerten Schuhe Reisender; für richtige Arbeit waren die meisten noch zu klein und schwach. Einer der älteren Jungen, der Sohn eines Fuhrmanns, der völlig unabhängig von dem Konflikt mit den Theranern von einem austretenden Pferd erschlagen worden war, wurde von allen nur Ratte genannt.
Trotz seines grobschlächtigen Aussehens gehörte er zu den gewieftesten seines Schlags. Mit der Zeit hatte er viele der jüngeren, ängstlicheren Kinder um sich versammelt und ihnen geholfen, sich zu organisieren. Wenn es nicht genug Arbeit gab, ließ er die Geschickteren unter ihnen auf dem Markt Lebensmittel stehlen, während die Übrigen für Lärm und allerlei andere Ablenkung sorgten. Das Diebesgut wurde dann unter allen brüderlich geteilt; so musste niemand (mehr als alle anderen) hungern. Wer zunächst zu schwach oder zu ängstlich war, konnte später seinen Anteil für die Gruppe einbringen; das war Rattes Philosophie. Viele der anderen Kinder blickten zu ihm auf und bewunderten seinen Mut. Die wenigen, die seine Stelle einzunehmen versuchten, mussten sich ihm spätestens nach der zwangsläufigen Prügelei geschlagen geben.
Kenji war schnell und geschickt. Ihm war es immer eine Leichtigkeit, Äpfel oder anderes Obst von Ständen zu stiebitzen oder unerkannt durch die Schatten aus gefährlichen Situationen zu entfliehen. Je mehr Zeit vergin, desto mehr störte er sich jedoch an dem Akt des Stehlens selbst. Kenji wuchs schnell und wenn er auch in Statur Ratte deutlich unterlegen blieb, befand er sich trotz des Altersunterschieds sehr bald auf Augenhöhe mit ihm. Doch wo Ratte ein Junge von fleischiger Figur war, dessen Schwerpunkt in Höhe seines Nabels lag, entwickelte sich der Ishtur zu einem feingliedrigen, fast femininen Mann mit langen, dünnen Armen und Beinen.
Schließlich entwickelten sich Spannungen zwischen Ratte und einem seiner geschicktesten Jungen. Wie es seine Art war, sprach er ihn direkt an, als er ihn das nächste mal allein antraf. "Kenji. Es wird Zeit, dass du mal etwas zurückgibst an die Gruppe." "Wie meinst du das? Ich gehe doch jeden Tag los und helfe. Keiner der Jungen hungert, schon seit Wochen. Und wir kriegen weniger Zuwachs, seitdem Frieden herrscht." "Ja, klar. Das ist gut. Weniger Kleine heisst, weniger hungrige Mäuler, die nicht mithelfen können. Das ist weniger Gewicht auf jeder einzelnen starken Schulter. Aber so einfach ist das hier nicht. Du bist geschickt und klug. Geschickter und klüger als die meisten Jungen hier; vielleicht sogar mehr als ich. Eines Tages. Das bedeutet, einfach nur deinen Anteil zu schleppen, ist viel weniger als du könntest." "Was willst du damit sagen? Das ich weniger stehle als ich könnte?" Kenji biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass genau das der Fall war. Er hasste es, die Erwachsenen um den Lohn ihrer Mühen zu bringen. Daher stahl er schon seit einer ganzen Weile nie mehr als absolut notwendig. Er war sich im Klaren darüber, dass es Ärger gab, wenn Ratte das einmal herausgefunden hatte. Doch Ratte wusste, wie gut Kenji im Argumentieren geworden war. Darum sprach er ihn nicht direkt darauf an. Und darum schlug er auch einen anderen Pfad ein, als Kenji vermuten mochte. "Ich verstehe dich. Du willst nichts stehlen, was anderen dann fehlt. Vielleicht ist da was dran. Darum hab ich eine besondere Aufgabe für dich. Weisst du noch, als ich dich gefunden habe? Du warst noch ein kleines Kind. Zu Tode verängstigt und ohne mich; völlig verloren, zweifellos." "Zweifellos." Kenji nickte und meinte das auch so. "Erinnerst du dich noch an den Tempel, in dem du vorher gewohnt hast? Du hast mir von dem Questor erzählt, der dich im Stich gelassen hat." Kenji nickte verwirrt. "Wenn du niemanden bestehlen willst, aber helfen, ist die Antwort eine ganz Einfache. Niemand von uns kann leichter seinen Weg in diesen Tempel finden als du. Ihre Schutzpassion ist der Patron der Gerechtigkeit, nicht war? Er wird einsehen, dass die Kollekte uns mehr hilft, als dem feisten, alten Questor dort. Er hat dir nicht geholfen, also hilfst du dir eben selbst. Und uns allen mit." Kenji gefiel dieser Plan ganz und gar nicht. Aber er wagte kein Widerwort zu geben. Er hatte Ratte so viel zu verdanken. Er hatte seit Jahren nicht an den Tempel und seinen Meister Pyrrhon gedacht. An die Details seiner Flucht konnte er sich nicht mehr besonders erinnern, nur noch, wie Ratte ihm geholfen hatte, als er sich voller Angst versteckt hatte. Also gab er schließlich nach.
Ein schicksalhaftes Unglück und die Rückkehr zum Licht (327 i.J.P.)
Just in jener Nacht, in der Kenji zum Tempel aufbrechen wollte, begegnete er im Versteck der Bande dem jungen Waisen Olrik. Olrik war einer der letzten Buben gewesen, die zu Rattes Bande zugestoßen waren. Wie Ratte selbst, war er einer der wenigen Jungen, die nicht durch den Krieg selbst zu Waisen geworden waren. Kenji kannte die Geschichte des schüchternen Knaben nicht genau, aber man erzählte sich, dass sein Vater seine eigene Frau im Suff erschlagen hatte und festgenommen worden war.
Olrik war stets blass, voller Angst und doch stets bedacht, sich den anderen zu beweisen, als würde er sonst nicht dazugehören. Er meldete sich immer freiwillig und hatte den Erfolg einzelner Aktionen mehr als einmal in Gefahr gebracht. Einmal war er von einem starken Händler gepackt worden und nur noch durch Rattes beherzten Einsatz entkommen. Kenji erinnerte sich noch lebhaft, wie sie alle in jener Nacht zitternd im Versteck hockten und erleichtet aufatmeten, als Ratte mit großer Verspätung doch noch nachkam. Er war windelweich geprügelt worden, aber offensichtlich einer Verhaftung doch noch entkommen. Statt sich jedoch über Olriks Fehler zu erzürnen, ging er schnurstracks auf ihn zu und lächelte.
"Na, gehts dir gut? Nächstes Mal haust du mich raus. Und jetzt geht alle schlafen, morgen wird ordentlich gefrühstückt!"
In dieser Nacht also saß Olrik da und blickte missmutig vor sich hin. Kenji wollte eigentlich aufbrechen, blieb dann aber doch vor dem Jungen, der wohl zwei Sommer jünger als er sein mochte, stehen. Wie sich im Gespräch schnell herausstellte, haderte Olrik wieder einmal mit seiner gefühlten Nutzlosigkeit für die Gruppe. Er schilderte Kenji, dass er eine Idee hatte, sich den Respekt der Gruppe zu verdienen, aber einfach nicht den Mut fände, die Sache auch durchzuziehen. Der junge Ishtur seufzte und ließ sich die Sache näher ausführen. Olrik hatte einen Hof am Rande der Stadt ausgemacht, in dem ein Bauer einige Schweine und Schafe hielt. Wenn er ein solches Festmahl besorgte, würden ihn alle bewundern. Und er Bauer hatte genug Vieh, er würde es sicher nicht einmal bemerken, wenn eines fehlte. Eigentlich sei er, Olrik, nichts anderes als ein Fuchs, der für seine Familie ein Tier riss; eine natürlicher Vorgang der Natur, nichts Böses jedenfalls.
Wieder sträubte sich im Innern Kenjis alles gegen diese höchst wackelige Idee; doch als er dem zweifelnden, sich ängstigenden Olrik in die Augen schaute, konnte er nicht anders, als ihm seine bedingungslose Hilfe anzubieten. Eigentlich war es ihm ganz recht, konnte er doch auf diese Weise den Einbruch in den Tempel um mindestens eine Nacht verschieben.
Tatsächlich lag der Hof des Bauern einsam und still in der fast sternenlosen Nacht da. Der Zaun war nicht sehr hoch und kein wirkliches Hindernis für die zwei geübten Streuner. Das Vieh stand in aller Ruhe im Stall und gab keine sonderlich auffälligen Laute von sich, welche die beiden Diebe in der Nacht hätte verraten können.
Als Olrik sich gerade eines der Jungtiere ausgesucht hatte, beschlich Kenji ein ungutes Gefühl. Er machte Olrik mit einem Zischlaut auf sich aufmerksam und bedeute ihm mit Handzeichen, auf ihn zu warten, dann schlich er leise aus dem Stall. Als er gerade heraustreten wollte, blickt er in ein paar glühender Augen, gefolgt von einem tiefen, markerschütterndem Grollen.
Mit einem Satz war er wieder in der Scheune und sprang in eine der Boxen. "Olrik! Ein Wachhund!"
Und was für ein Wachhund. Mehr Wolf als Hund, mehr Kreatur als Tier, folgte das fürchterliche Wesen dem Ishtur in das Innere des windschiefen Gebäudes. Olrik stand in einer der Boxen und starrte es aus großen, furchterfüllten Augen an. Dann ging es sehr schnell. Als der Wachhund Olrik ausgemacht hatte, setzte er seinen massigen Leib mit ungeahnter Schnelligkeit in Bewegung und sprintete auf ihn zu. Olrik, mit einem Zicklein unter dem Arm, stand immer noch bewegungslos da. Kaum war der Hund an Kenjis Box vorbeigesprungen, stieß dieser einen hellen Schrei aus. Der Hund versuchte, irritiert von dem Geräusch im Rücken, seinen Leib herumzureißen und sich der neuen Gefahr zu stellen, aber unterschätzte die Wucht seiner eigenen Stoßrichtung. Er blieb an der Kante von Olriks Box hängen und brüllte laut auf, als es ihn zu Boden riss.
Beide Jungen rannten los, aus der Scheune heraus, bevor das Tier sich wieder aufrappelte. Bis zum Zaun waren es vielleicht 30 Schritte. Fassungslos bemerkte der laufende Kenji, dass Olrik das Zicklein immer noch umklammert hielt. Olriks Augen leuchteten. "Ich hab es! Die anderen werden Augen machen!" Durch das zusätzliche Gewicht fiel er hinter Kenji zurück, der zuerst am Zaun war und daran heraufkletterte. Als er die Spitze erreicht hatte und sich darüberschwang, sah er den Wachhund, der gerade aus der Scheune herausrannte. Kenjis Stimme überschlug sich vor Panik. "Lass es los! Der Hund! Schnell!" Doch Olrik bemerkte die nahende Gefahr trotz der Rufe nicht. Tatsächlich wurde er noch langsamer, als er dem Zaun näher kam. Wie er das Tier über den Zaun brachte, hatte er noch gar nicht bedacht. Dann traf ihn etwas großes, Schweres wie ein Geschoss und riss ihn zu Boden.
Kenji schrie auf und fiel auf der Außenseite vom Zaun. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, vergrub der Wachhund sein Gebiss in den Hals des gurgelnden Alrik. Das Zicklein hoppelte seitwärts davon. Der übrige Anblick wurde Kenji erspart, als sich Tränenschleier über die Sicht Kenjis legten. Dann wurden Geräusche vom Haus des Bauern laut. Der Lärm hatte den Hausherrn wohl geweckt. Doch als der das schreckliche Werk seines halbwilden Wachhundes entdeckte, war Kenji schon in die Dunkelheit der Nacht geflohen.
Die halbe Nacht lief Kenji blind vor Trauer und Schock durch Kronstadt. Er konnte nicht zurückkehren. Was sollte er Ratte sagen, was den anderen? Am schlimmsten war für ihn, dass er wusste, das Ratte ihm keinen Vorwurf machen würde.
Ob es Schicksal oder Zufall war, der torkelnde, ungezielte Weg des Ishtur führte ihn schließlich zum Tempel des Mynbruje. Sein erster klarer Blick nach dem Unglück war die Silhouette des Tempels vor dem Mond, der sich aus den Wolken schälte. Ohne das er es wusste, handelte es sich bei der Nacht um den sechsten Jahrestag seit seiner Flucht vor dem Liebhaber des Mädchens, das auf ihn hatte aufpassen sollen. Darum lag im Inneren des Tempels Pyrrhon von Lis noch wach und dachte an den Jungen, der seine größte Aufgabe hätte sein sollen und zu seiner größten Niederlage geworden war. Er hatte seit seiner Zeit in Lis nie gut schlafen können. Doch diese Nacht war die schlimmste im ganzen Jahr; wie jedes Jahr.
Obwohl er sich sonst an nicht vieles erinnerte, fand Kenji seinen unerkannten Weg in den Tempel wie im Schlaf. Ohne groß über Sinn und Sinnlosigkeit seines Tuns nachzudenken, schlich Kenji durch den Gebetsraum bis zu der großen Schale samt der Kollekte. Er nahm die drei steinernen Stufen bis zum Fuß der Mynbrujestatue ein, an dessen Fuß die beiden Liebenden damals gelegen hatten. Als seine Hand sich in den gespendeten Münzen vergrub, stand Pyrrhon unter demselben Türfirst, von dem aus Kenji damals die Liebenden beobachtet hatte.
Von hinten und nach dem körperlichen Wandel, den Kenji in den letzten Jahren durchgemacht hatte, erkannte der Meister seinen einstigen Schüler nicht. Als dieser sich aus der Kollekte bedient hatte und zur Flucht wendete, war Pyrrhon zurück in die Schatten gewichen und beobachtete den Dieb aus der sicheren Dunkeltheit. Er fürchtete sich nicht; er empfand Mitleid für die verzweifelte Seele, die die Passionen selbst bestehlen wollte, die doch Quell der Hoffnungen selbst sein sollten.
Kenji ging einige Schritte, als ihm die Sinnlosigkeit seines Tuns auf die Knie zwang. Die Kupfer- und Silbermünzen machten Olrik auch nicht lebendig. Alles Gold Barsaives würde das nicht tun. Er hatte ihn ihm Stich gelasen und war damit keiner mehr von Rattes Bande. Denn niemand von ihnen würde jemals einen der anderen im Stich lassen.
Er hatte seine letzte Zuflucht vertan.
Erschöpft und verzweifelt sank er zu Boden.
Als Pyrrhon sich aus den Schatten löste und an den Gesunkenen herantrat, hatte sich eine tiefe Ohnmacht des Jungen erbarmt. Seine Hand öffnete sich und klimpernd fielen die Münzen auf den steinernen Tempelboden. Pyrrhon drehte den Fremden auf den Rücken und traute seinen Augen kaum. Unter dem dreckverkrusteten, tränenzerfurchten Gesicht des Jugendlichen erkannte er augenblicklich den verlorenen Jungen.
"Kenji!", entfuhr es ihm.
Er wusste nicht, was geschehen war. Aber eines war ihm gewiss. Noch einmal würde er nicht versagen. Die Passionen hatten Pyrrhon von Lis eine zweite Chance geschenkt. Er würde sie nutzen.
Der Pfad des himmlischen Greifen (328 - 338 i.J.P.)
Viele Monate gingen ins Land, bis Kenji wirklich Vertrauen in seinen alten und neuen Lehrmeister gefasst hatte. Doch wo sollte er sonst hingehen? Eine Flucht machte nur dann Sinn, wenn es einen Ort gab, an den man hätte fliehen sollen. Von Ratte und seiner Bande war im Tempel keine Spur. Ob sie sich nicht auf den geweihnten Boden wagten, weil sie ihr Tagewerk mit Diebstahl und Trickserein bewerkstelligten; ob sie Kenji aufgegeben oder schlicht vergessen hatten, blieb für ihn reine Spekulation.
Da der junge Ishtur sich von dem traumatischen Erlebnis nur sehr langsam erholte, zu wenig aß und Nacht für Nacht von Alpträumen geplagt wurde - Träume, die ihn noch Jahrzehnte später hin und wieder heimsuchten - brachte Pyrrhon in der ersten Zeit nicht viel mehr zuwege, als Kenji zunächst einigermaßen gesund zu halten und ihn dann nach und nach aufzupäppeln. Irgendwann begann Kenji, zögerlich, wieder zu sprechen. Einfache Tischmanieren, kurze Bitt- und Danksagungen, halfen ihm wieder zurück zu seiner Sprache. Er blieb jedoch lange Zeit sehr schweigsam, und belanglose Gespräche nur um des Sprechens willen zu führen war Pyrrhons Sache nie gewesen. Darum wartete er auf einen Moment, der ihm günstig schien und zwang Kenji mit einer strengen Aufgabe aus seiner Einsilbigkeit heraus.
"Kenji. Es sind nun sieben Wochen vergangen, seitdem du hier eingekehrt bist. Vielleicht erinnerst du dich nicht, aber ich habe dich da vorne auf dem Boden gefunden, die Hand voll mit Münzen aus der Opferschale. Wie ein Dieb in der Nacht bist du in den Tempel des himmlischen Richters geschlichen und hast nach dem gegriffen, was die Armen hierlassen, damit ich es im Dienste seiner Gnade den Ärmsten zukommen lassen kann. Ich würde dich fragen, ob es das ist, was du willst; ein Dieb sein, ein nutzloses Mitglied der Gesellschaft, von dem Schweiß und den Mühen der Anderen genährt. Aber du würdest mich ohnehin nur mit deinen großen Augen anschauen und schweigen. Und da du in deinem jetzigen Zustand offensichtlich weder gewillt bist mir Rede und Antwort zu stehen, noch fähig irgendeine vernünftige Entscheidung zu treffen, werde ich das jetzt für dich übernehmen. Du nimmst deine Lehre wieder auf. Und du wirst doppelt so fleißig und gehorsam lernen und arbeiten wie jeder einzelne Scholar, der jemals in einem Tempel der Passionen gelernt und gearbeitet hat. Mynbruje ist der Gott der Gnade, ja. Aber Gnade wird nur denen gewährt, die sich ehrlich bemühen und trotz aller Mühen scheitern. Du hast noch nicht einmal angefangen, es zu versuchen.
Du wirst jeden Tag zu den Passionen beten und um Einsicht bitten, du wirst hart arbeiten und jede Aufgabe, die ich dir stelle, ohne Murren und Diskussionen erfüllen. Und deine erste Aufgabe lautet: Finde eine gerechte Strafe für deine Vergehen. Wenn du eine Antwort hast, suche mich auf. Bis dahin nimm dir den Besen."
Und der junge Lehrling tat exakt so, wie ihm geheißen war. Kenji lebte das asketische Leben eines Lehrlings, der außer seiner Arbeit, dem Erlernen seiner Kurien und dem Gebet nichts anderes zuließ als die Lehren und mitunter seltsamen Aufgaben seines Lehrmeisters Pyrrhon. Während dieser sich anfangs darauf beschränkte, Kenji in der Historie des stolzen und freien Barsaives und seiner Bewohner sowie dem Wissen über das himmlische Pantheon zu unterrichten, änderte sich seine Strategie über die folgenden Jahre merklich. Kenji lernte schnell und war besonders begabt im Auswendiglernen von Daten und Fakten; daher setzte Pyrrhon den Schwerpunkt immer mehr auf die Zusammenhänge und Details derselben.
Um das zwanzigste Lebensjahr des Lehrlings herum begann Pyrrhon, ihn mit auf kurze Reisen zu nehmen. Ließ ihn zunächst bei Schlichtungen und Streitereien zwischen Bauern und Händlern beobachten, um dann nach der Rückkehr in den Tempel Kenji seine Urteile rekonstruieren und erklären zu lassen. Was für die eine und was für die Gegenseite sprach; welchen Aussagen wieviel Glauben zu schenken sei. Pyrrhon entdeckte eine stark ausgeprägte moralische Ader in seinem Lehrling und einen ungewöhnlich fein ausgeprägten Sinn für das Wesen der Menschen, mit denen sie sich auseinandersetzten. Während Pyrrhon sich gerne auf nachweisebare Fakten lehnte und teilweise stundenlange Aussagen aufnahm, um den Wahrheitsgehalt sicher zu bestimmen, neigte Kenji zu schnellen, intuitiven Einschätzungen, die auf nicht viel mehr als einem Handschütteln und einem tiefen Blick in die Augen bestanden. Pyrrhon verschwieg es Kenji aus Gründen der Lehrsamkeit, aber er war nahezu schockiert, welche Trefferquote diese Art der Einschätzung in Kenjis Fall aufwies. Zwar konnte sie seine eigene Erfahrung und sein analytisches Verfahren nicht ausstechen, aber ein solches Talent war zweifellos ein Geschenk Mynbrujes.
In Kenjis dreiundzwanzigsten Lebensjahr, im 337. Jahr der Passionen; inzwischen durfte er bei kleineren Streitigkeiten schon selbst beratschlagen (aber nicht richten), kehrte er eines frühen Nachmittags in den Tempel zurück und fand seinen Lehrmeister vor, als er gerade eine Depesche las. Die Augenbrauen des ergrauten Questors zuckten bei der Lektüre, offensichtlich war er überrascht und auch ein wenig besorgt.
Fürs erste beschloss Kenji jedoch, das Gesehene zu ignorieren. Pyrrhon pflegte ihn frühzeitig zu informieren, wenn außerhalb des Tempels etwas geschah, das er wissen musste.
"Meister?"
"Hm."
"Ich weiß, es liegt lange zurück. Aber ich habe eine Antwort."
Pyrrhon blickte geistesabwesend auf, mit fragendem Gesicht.
"Meine Strafe soll sein, dass ich mein Leben denen widme, die drohen, meine Fehler zu wiederholen. Ich möchte ihnen zur Seite stehen und ihnen die Kraft geben, auf den rechten Pfad zurückzufinden. So wie Ihr mir geholfen habt."
Der Erzquestor lachte herzlich auf.
"Das hatte ich ja völlig vergessen! Aber gut. Entschuldige, Kenji. Das ist eine ernste und wichtige Angelegenheit. Das du sie nicht vergessen hast, ehrt dich. Und so soll es sein. Ich freue mich, dass deine Bestrafung deiner Zukunft als Questor nichts im Wege steht."
"Das heißt, ich darf...?"
"Nicht so schnell, Kenji. Es gibt noch eine Menge zu lernen. Aber sieh mal, das Schicksal hat dir einen Wink geschickt."
Pyrrhon wedelte mit der Depesche.
"Was ist das, Meister?"
"Die Einladung eines alten Freundes. Ich habe ihn sicher schon einmal erwähnt, er ist einer der ansässigen Theraner. Ein stolzer und weiser Mann."
Theraner. Kenji lebte in einer Stadt, die für barsavische Verhältnisse ausgezeichnet mit den Theranern auskam. Und von seinem Lehrmeister hörte er selten ein kritisches Wort zu der komplexen Situation zwischen Barsaive und den einstigen Besatzern. Doch ein Blick in den Spiegel genügte um ihn daran zu erinnern, dass er ein Kriegswaise war. Pyrrhon hatte ihm alles erzählt, was er dazu berichten wusste, was nicht allzuviel war. In den unruhigen letzten Wochen und Monaten vor dem Frieden waren seine Eltern irgendwie zwischen die Fronten geraten; am Ende war nur Kenji übrig gewesen. In den Büchern des Tempels stand auch nicht viel mehr über die Theraner, als er von Pyrrhon bereits gehört hatte.
Das Anwesen des theranischen Botschafters lag nicht weit entfernt der Stadt, meisterlich erbaut von einem Architekten aus dem Kernreich, auf erhabenen Hügeln, umgeben von auschweifenden, grünen Wiesen bis direkt zu den steil abfallenden Klippen der Küste des Arasmeers. Bei seinen Wanderungen mit Meister Pyrrhon hatte Kenji die Villa bisher nur aus der Ferne sehen können, nie hatte er damit gerechnet, das Gelände zu betreten oder gar seinem Besitzer zu begegnen. Aus der Nähe wirkte alles noch größer und eleganter, als er es sich vorgestellt hatte. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Male in seinem noch jungen Leben verspürte er eine ungeheure Demut vor den fantastischen Wundern der Welt, die die Passionen geschaffen hatten. Sicher, ein Mensch hatte diese Mauern erdacht, aber der Funke seiner Kreativität, seiner Kunstfertigkeit war nichts anderes als göttliche Inspiration; ein kurzes divines Lächeln auf einen Sterblichen, der als Werkzeug der Götter beflügelt worden war.
Bereits kurz hinter dem Tor, das nach einem theranischen Gruß seines Meisters ohne jedes Zögern geöffnet wurde, sah Kenji einen Reiter auf einem schwarzen Haflinger über die Wiesen auf sie zugallopieren. Als er näher kam, erkannte er seinen Irrtum. Nicht etwa der Hausherr kam ihnen entgegengeritten. Ein hochgewachsener Junge mit blondem gelockten Haar und einem siegesgewissen Lächeln gab sich ihnen da zu erkennen. Er ritte bis auf etwa zwanzig Schritte heran, hielt sein Pferd mit einer gekonnten Wendung des Fußes mühelos an und beobachtete sie einen Moment. Dann ließ er sein Tier steigen, wendete es und ritt ohne ein weiteres Wort in Richtung des weißen Hauptgebäudes im Zentrum des Geländes zu.
"Das ist Augustus Octavius, der Sohn des Botschafters. Er wächst schnell, sieht etwas älter aus, als er eigentlich ist. Er wird seinem Vater von unserer Ankunft berichten.", erläuterte Pyrrhon. Kenji blickte dem Jungen hinterher. "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so gut reiten konnte." "Als Sohn seines Vaters gibt er sich nicht zufrieden, bevor er der Beste ist. In jeder Disziplin." "Dafür ließen seine Manieren aber zu wünschen übrig. Er hätte Euch ruhig begrüßen können, finde ich, Meister." "Das ist Aufgabe des Hausherrens, seines Vaters. Außerdem bin ich kein Theraner. Aber das erkläre ich dir lieber ein anderes Mal. Respektiere ihn, auch wenn er ein gutes Stück jünger ist als du. Er ist ein guter Schüler und wird einst ein wichtiger Mann im theranischen Reich werden. Außer seinem Ehrgeiz und der Willkür der Götter sehe ich nichts, was dies ändern könnte." "Ihr meint die Weisheit der Passionen?" "Nein, Kenji. Sonst hätte ich das gesagt. Ich bin alt, nicht verwirrt."
Gajus Octavius Aequus war ein Mann, den man nicht vergessen würde, wenn man ihm einmal begegnet war. Obwohl nicht mehr der jüngste, beeindruckten Kenji seine tadellose Haltung und seine perfekte Etikette; sein weiser und doch durchdringender Blick verursachten eine gewisse Ehrfurcht vor der Erscheinung des theranischen Botschafters. Er begrüßte beide Ankömmlinge mit dem militärischen Gruß, fügte dann aber nach Durchtreten der Pforte des Anwesens einen firmen Händedruck und einige wohl freundlich gemeinte Worte hinzu. Er sprach in einem tiefen, zweifellos perfekten Theranisch. Kenji konnte darauf hin leider nur freundlich nicken.
Natürlich entging dies den aufmerksamen Augen des Botschafters nicht, der darauf hin einige Worte an seinen Alten Freund, den Erzquestor richtete. Sie redeten zweifellos über ihn, da er aber kein Wort verstand, blieb Kenji nichts als ein betretenes Schweigen und gute Miene zum bösen Spiel. Als Gajus Aequus schließlich laut auflachte und Pyrrhon an der Schulter fasste, um Seite an Seite mit ihm tiefer in das Anwesen vorzudringen (ein kumpanenhaftes Verhalten, dass Kenji in den folgenden Jahren bei niemand anderem als Pyrrhon wiedersehen sollte), erblickte er den Rest der Familie, der sich hinter dem Hausherrn aufgestellt hatte. Die Frau des Botschafters, der Kleidung nach ebenfalls Theranerin und deutlich jünger als er, hatte ihre beiden Kinder links und rechts von sich versammelt. Augustus, der sich offensichtlich alle Mühe gab, seinem Vater alle Ehre zu machen (und älter auszusehen, als er war) und, sich halb hinter ihrer Mutter versteckt haltend, ein kleines Mädchen mit langem, blonden Haar, das eher schüchtern und verschwiegen dreinschaute.
Da er nichts zu sagen wusste und ihm auch nicht gänzlich klar war, ob es die Etikette überhaupt erlaubt hätte, blieb Kenji einfach still und wie festgewurzelt stehen und lächelte schief.
In glockenheller Gemeinsprache half ihm die Herrin des Anwesens aus.
"Willkommen in unserem nicht ganz so bescheidenen Heim, Schüler des Pyrrhon. Ich bin Morea. Und dies sind Augustus und Octavia. Entschuldigt bitte meinen Mann. Er ist der Meinung, jeder Gelehrte sollte die Sprache der Wissenschaft und der Kultur sprechen, darum war er etwas irritiert, dass euer Lehrmeister sich bei euch bisher nicht darum bemüht hat. Auch wenn Ihr noch Schüler seid. Wie war noch euer Name?" Kenji musste sich Mühe geben, nicht zu stottern. Die großen, türkisblauen Augen der Moreas schienen direkt durch ihn hindurchzuschauen, all seine wohlbehüteten Geheimnisse und tiefe Scham konnten sich ihrer nicht erwehren. "Kenji. Ich meine Kenji, Frau Botschafterin." Moreas Lachen war ehrlich und herzlich und es nahm Kenji etwas von seiner Verkrampftheit. "Macht euch darum keine Sorgen, Kenji. Lauft lieber schnell hinter den beiden Männern hinterher und versucht ihnen auszureden, was sie gerade aushecken. Ich glaube, mein Mann möchte wirklich, dass Ihr unsere Sprache lernt. Als hätte ein angehender Questor nichts wichtigeres zu tun."
Sie betraten die Bibliothek über einen Flur, der direkt vom Atrium zu dem nächstegelegenen Gebäude führte und dieses mit der eigentlichen Villa der Familie verband. Eigentlich war dieser Weg der Familie und den engsten Bediensteten zugedacht, doch dieses eine Mal führte sie Gajus Octavius persönlich. Kenji hatte eine kleine Lesestube mit gut sortierter theranischer Literatur erwartet - doch wie hatte er sich da getäuscht! Vor ihm taten sich großzügig angelegte Räume mit Dutzenden von prall gefüllten Regalen und Schränken aller erdenklicher Literatur auf. Er erspähte bekannte und unbekannte Werke über Politik, Geschichte und Geographie, über Dichtung und Epen, über Arkane Mysterien und die Gestalt der erforschten Flora und Fauna Alorans. Vermutlich versammelte sich hier mehr Wissen, als ein Mensch zu Lebzeiten sammeln konnte. Als Pyrrhon Kenji später erklärte, dass diese beeindruckende Sammlung gegenüber der Bibliothek von Throal noch von sehr bescheidenen Ausmaß war, glaubte er kein Wort und wurde erst Jahre später von seinen eigenen Augen eines Besseren belehrt.
Da sich der Erzquestor und der Botschafter wichtigen Gesprächen hingeben mussten, durfte Kenji zurückbleiben und eine Kostprobe seiner zukünftigen Lehrstunden in der Bibliothek nehmen. Da er vom Angebot schier überwältigt war, setzte er sich einfach an einer der großen Lesetische und blätterte durch eines der Bücher, das dort liegen geblieben war. Anscheinend handelte das Werk von theranischer Dichtung. Leider verstand Kenji kein Wort. Anstatt sich jedoch ein anderes Buch vorzunehmen, blätterte er wie verzaubert durch den Quartoeinband mit seinen dicken, leicht vergilbten Seiten. Er strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über die meisterlich verzierten Initialen der Kapitelanfänge. In manchen waren ihm unbekannte Figuren gezeichnet worden, womöglich wichtige historische theranische Persönlichkeiten oder mythische Heldenfiguren. Andere waren so verschnörkelt und schlängelten sich den Rand des Textes entlang über die halbe Seite, dass er den originalen Buchstaben kaum noch zu erkennen vermochte. Er verharrte auf einer Seite, deren Initial mit Blattgold verziert war, das hier und dort bereits abblätterte. Zu seiner großen Überraschung war der Text des vorliegenden Gedichtes sowohl auf theranisch, als auch in Gemeinsprache niedergeschrieben worden. Andächtig entzifferte er ihren Inhalt, dabei las er, ohne es zunächst zu bemerken, laut vor:
Nicht soll dich das Glück zu Hochmut verleiten
noch das Unglück dich zu seinem Sklaven machen.
Nein, wie das Gold im Feuer,
bleibe, der du bist,
und rette dir dein eigenes Selbst.
Ein knisterndes Geräusch in seinem Rücken brachte ihn zurück nach Barsaive, zurück in die Bibliothek des Botschafters. Er wandte sich um und sah gerade noch den Zipfel des Kleides des theranischen Mädchens in Richtung des Flurs huschen, den sie hergekommen waren. Wie hatte Morea sie noch gleich genannt? Octavia, dachte Kenji und wandte sich wieder der Literatur zu.
Am Abend desselben Tages, zurück im Tempel des Mynbruje, saßen Kenji und Pyrrhon zum Abendbrot. Während Kenji in jeder Hinsicht begeistert von ihrem Besuch zurückgekehrt war, hatte der Erzquestor die meiste Zeit geschwiegen. Als dieser einen tiefen Seufzer von sich gab, sah Kenji dies als rechten Zeitpunkt an, die Etikette auf sich beruhen zu lassen und das Wort zu ergreifen.
"Meister, was ist heute geschehen? Ihr spracht von Botschafter Aequus als einem guten Freund; und doch wirkt ihr seit dem Besuch mehr als betrübt."
"Es ist Gaius Sorgen, die mich betrüben. Politik. Familie. Wir sind hier weit entfernt von Thera. Gaius hat seine schützende Hand über denen, die er liebt. Aber manchmal habe ich den Eindruck, man kann sein Schicksal nur aufhalten, ihm jedoch nie entfliehen."
Kenji kannte keinen Questor, der über einen tieferen, festeren Glauben als Pyrrhon verfügte. Und doch war dies nicht das erste Mal, dass er in seinem Lehrmeister ein Hadern mit dem Pfad der Passionen bemerkte, dass ihm als seinem Schüler sehr mißfiel. Da er es nicht wagte, ihn darauf anzusprechen, blieb er bei der eigentlichen Materie.
"Und welches Schicksal soll das sein?"
"Das wissen nur die Passionen, Kenji. Weißt du, Gaius ist ein großer Mann unter all den aufrechten Männern, die ich kennenlernen durfte. Aber durch seine geradlinige, aufrechte Art ist er nicht bei allen wichtigen Männern in Thera beliebt. Zynische Zungen könnten behaupten, seine gute Eigenschaften machten ihn unbrauchbar für die hohe Politik."
Darauf wusste Kenji nichts zu erwidern. Nach einigen Bissen in der Stille versuchte er, das Thema in etwas lichtere Gefilde zu führen.
"Die Dame Morea erschien mir als eine fröhliche, erquickende Gestalt. Und ihre Kinder. Sie sind noch jung, aber haben schon etwas... edles. Ich habe immer vermutet, ein Theraner wird erst erhaben mit dem Alter. Aber diese beiden..."
Pyrrhon hob seine Augenbrauen.
"Kenji, wenn du ein guter Diener der Passionen werden willst, musst du lernen, nicht nur mit deinem Herzen zu sehen. Du vergisst über dein Bauchgefühl alle analytischen Fähigkeiten, die dir gegeben sind. Ja, die Familie von Aequus ist voller beeindruckender Menschen und solcher, die es einmal werden. Aber wie alle Menschen sind sie mehr als nur Antlitz und Körper. Erinnere dich, was du heute gesehen hast und dann sage mir noch einmal, wen du heute kennengelernt hast."
Diesmal schwieg Kenji eine längere Zeit. Dann, endlich, setzte er erneut an. "Gaius Octavius Aequus ist ein tapferer und ehrlicher Mann. Doch die Vergangenheit hat ihn schmerzlich gelehrt, sein wahres Ich hinter Etikette und Form zu verstecken. Nicht aus Angst, sondern zum Wohle derer, die er zu beschützen gedenkt. Ich habe nicht verstanden, worüber ihr gesprochen habt, aber seine Körpersprache, seine Art, Euch zu betrachten, selbst sein Gang haben sich geringfügig geändert, als er sich mit Euch alleine wähnte. Das war der wahre Gaius Octavius." "Hmm. War das alles über ihn?" "Ich glaube, er tut dies alles aus einem bestimmten Grund. Ein so wohl überlegter Mann tut nichts ohne Grund. Er ist hier in Barsaive, mit seiner Familie, weil er hier sicherer ist als in Thera? Womöglich. Aber warum gerade Barsaive. Es hat etwas mit diesem Land zu tun. Mit den Menschen. Oder der Geschichte. Vielleicht findet sich die Antwort in dieser erstaunlichen Bibliothek." "Nicht schlecht. Was ist mit dem Rest der Familie?"
"Moreas herzliche Art ist nicht gespielt, aber in gewisser Weise benutzt sie den selben Trick wie ihr Mann, mit umgekehrten Vorzeichen. Hinter der fröhlichen und ungezwungenen Art verbirgt sich mehr. Ein Geheimnis? Sind sie deswegen aus Thera hierhergezogen? Hat es etwas mit ihren Kindern zu tun, oder ist es etwas, das ihre Vergangenheit betrifft?"
Pyrrhon schmunzelte.
"Du rätst nur, weil du weißt, das da etwas sein muss, weil ich sonst die Frage gar nicht gestellt hätte. Du solltest dich an der Beobachtung dieser Familie versuchen, nicht der Interpretation deines Lehrmeisters, Kenji."
"Entschuldigt. Aber irgendetwas ist da. Ich habe es in ihren Augen gesehen. Sie hat eine Art Aura. Es ist, als sei sie deutlich älter als ihr Körper. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ihre Tochter hat es glaube ich auch."
Pyrrhon wirkte überrascht.
"Ihre Tochter?"
"Ja. Octavia. Sie wirkte so schüchtern. Aber ich glaube, sie ist mir heimlich in die Bibliothek gefolgt. Ich glaube, in ihren Augen war auch etwas."
"Bleibt noch der kleine Augustus Octavius."
"Er wird einmal ein Feldherr oder sowas. Er ist noch jung, aber wahrscheinlich hasst er es, noch ein Kind zu sein. Er ist ehrgeizig und will seinen Vater stolz machen. Und man muss kein Prophet sein, um ihm eine große Zukunft vorauszusagen."
"Aber was verbirgt sich darunter?"
"Ein Kind sollte ein Kind sein. Sonst wird es ihm sein Leben lang an etwas fehlen."
"Woher weißt du das, Kenji?"
"Weil es mir fehlt."
Sie beendeten das Abendbrot schweigend. Als Kenji abräumte, fügte Pyrrhon hintan:
"Morgen beginnt der nächste Teil deiner Ausbildung. Du wirst drei Tage die Woche in der Bibliothek lesen und lernen. Wann immer er einen Bediensteten entbehren kann, so hat es der Botschafter versprochen, wirst du in theranischer Sprache und Schrift gelehrt werden, da du sonst einen Großteil der Lektüre nicht verstehen kannst. Dafür wirst du mit deinem Wissen, jetzt und in Zukunft, stets dem Hause Aequus zu Diensten sein. Verstanden?"
"Ja, Meister."
Der junge und der alte Questor (338 - 345 i.J.P.)
In den nächsten Jahren durchlief der junge Questor Kenji eine zweigestaltige Ausbildung. Jeden Morgen und nicht selten auch die Zeit vor der Dämmerung verbrachte er mit der Lektüre der mannigfaltigen Werke aus Gaius Aequus Bibliothek. Während er einige Standartwerke, speziell über das Pantheon der Götter oder das Wesen von Politik und Staat mit in den Tempel nehmen durfte, musste er vor allem die wertvolleren und älteren Werke, speziell die von theranischen Autoren stets innerhalb der Bibliothek lesen. Auf diese Weise begegneten ihm nach und nach die meisten der anderen Nutznießer von Aequus Sammlung. Die meisten waren, wie sich schnell herausstellte, im großen und ganzen derselben Aufgabe wegen auf dem Anwesen. Magier und Gelehrte, die intensive Recherche betrieben; es war nicht etwa so, dass sie ihn aktiv mieden oder ihre Arbeit vor ihm geheim hielten. Aber nicht zuletzt der Sprachbarriere wegen und wegen ihrer aufopfernden Geschäftigkeit begab es sich nur sehr selten, dass Kenji die Möglichkeit eines ungezwungenen Gespräches wahrzunehmen vermochte. Doch Kenji war ein wissbegieriger und talentierter Schüler auch in den Sprachen, und so sanken die Verständigungsschwierigkeiten mit jeder Stunde, welche die Bedienstete des Hauses, die ihm zugeteilt worden war, ihn tiefer in theranische Geheimnisse wie Deklination und Konjugation einwies.
In größeren Abständen erschien die Hausherrin Morea persönlich, weniger als Prüfung, wie sie ihm versicherte, denn aus persönlicher Neugier und überprüfte seine Fortschritte mit zunehmend komplexen Gesprächen in ihrer Muttersprache. Für gewöhnlich ließ sie ihn dann durch den Verbindungskorridor in das Atrium kommen, damit er sich hinsetzte und mit ihr konversierte, während sie mit aufrechten Schultern durch den hellen Raum schritt und seine sprachliche und geistige Finesse herausforderte.
Anfangs wurde er dabei manchesmal ein wenig abgelenkt, etwa wenn rasch heranwachsende Tochter Octavia mit gleichaltrigen Gefährtinnen vorbeihuschte. Sie spielten fangen oder forderten sich mit theranischen Kinderreimen heraus. Diese Kinderspiele kannte Kenji nur von Erzählungen. Diese Kindheit hatte er nie erlebt. Mehr als einmal bemerkte Morea seine Zerstreuung. Er wusste nicht, ob Morea die Gründe dahinter erraten hatte, aber bei den folgenden Treffen im Atrium war von den Kindern keine Spur mehr.
Er begegnete Octavia erst wieder, als er eines frühen Abends, kurz bevor die Dämmerung einsetzte, ein Buch zurückbringen und dafür ein anderes ausleihen wollte. Bei seinem Eintreffen und dem geliebten kurzen Spaziergang durch die Gärten liefen sie lachend und sich neckend an ihm vorbei. Er freute sich, da er von seiner Sprachlehrerin häufiger besorgte Worte vernommen hatte, wie schwer sich Octavia mit der Abwesenheit ihres Bruders tat. Er war vor fast zwei Jahren von seinem stolzen Vater zur Militärausbildung geschickt worden. Aber nun lief sie, als sei nichts gewesen, lachend über die Wiese. Vielleicht stimmten Pyrrhons Worte über die Zeit, die fast alle Wunden heilte, dachte Kenji.
Octavia, die den Kopf überall hin gewendet hatte, nur nicht in ihre Laufrichtung, prallte im vollen Lauf gegen den jungen Questor, der seinerseits von Gedanken abgelenkt war. Sie fiel ins hohe Gras und schaute den erwachsenen Fremden in großer Panik an. Er erwiderte den Blick. Da war es wieder. Er hatte diese Aura lange nicht gesehen. Es war dasselbe Flackern, dass ihm bei Morea aufgefallen war, bei ihrer ersten Begegnung. Doch bevor er den Finger darauf legen konnte, war sie schon aufgesprungen und davon gelaufen. Sie murmelte noch ein flüchtiges venia, dann war sie fort. Es klang, als lachten die anderen Kinder über ihr Missgeschick.
Als er kurz darauf aus der Bibliothek wiederkehrte und sich auf den Heimweg machen wollte, bot sich ihm ein noch deutlich beunruhigenderes Bild. Obwohl das halbe Dutzend Mädchen, alle vielleicht zwölf oder dreizehn, noch immer auf der Wiese weilte, lachte nun niemand mehr. Eines der Mädchen weinte gar schrill. Morea war bei dem Mädchen und redete intensiv auf es ein. Die anderen Mädchen standen in einem Grüppchen und blickten abwechselnd zu dem Päärchen und der abseits stehenden Octavia. Es wurde leise getuschelt.
Als er den Ernst und die Strenge in Moreas Gesicht sah, entschied sich Kenji, nicht stehen zu bleiben. So erhaschte er nur einen kurzen Blick auf das nun leiser weindende Mädchen. Seltsam. Er konnte sich gar nicht an ein kurzhaariges Mädchen innerhalb der Gruppe erinnern. In der einbrechenden Dämmerung sah es gar beinahe so aus, als habe sie keine Augenbrauen...
Zurück im Tempel sprach er Meister Pyrrhon nicht direkt auf seine Beobachtungen an; aber es wäre nicht Pyrrhon gewesen, wenn er nicht bemerkt hätte, dass in seinem Schützling etwas rumorte.
"Was ist heute geschehen, Kenji?"
"Je mehr Zeit ich auf dem Anwesen des Botschafters verbringe, desto klarer wird mir, das für eine ehrliche und aufrichtige Familie wie diese, dort sehr viele Geheimnisse gehütet werden."
"Freundschaft bedeutet manchmal auch, nicht alles in Frage zu stellen, Kenji."
"Das klingt nicht sehr nach den Lehren unseres Göttervaters, Meister."
Pyrrhons Blick verdüsterte sich.
"Nein, aber niemand Geringeres als Archorbar hat mich gelehrt, das mancher Stein besser nicht gedreht wird."
"Ich wusste gar nicht, dass der weise Archorbar solch einen Humor hat."
"Du weisst sehr vieles nicht, Kenji. Deswegen bin ich auch der Meister und du der Schüler."
Aber da hatte sich schon wieder Milde über das Gesicht des Pyrrhon gelegt.
Der zweite Teil der Ausbildung war praktischerer Natur und wurde schnell Kenjis bevorzugte Form der Lehre. In immer größeren Kreisen durfte er um Kronstadt ziehen und die dortliegenden Bauernhäuser und Dörfer, die Weiler und bemannten Furten besuchen und kleinere Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen. In dieser Zeit trug er die einfache, braune Robe der jungen, herumwandernden Mynbrujequestoren und eine simple, bronze Brosche mit dem Zeichen der heiligen Waage des himmlischen Richteres. Je mehr er dabei mit den Menschen sprach und ihr Vertrauen und ihre Hochachtung gewann, desto seltener fragten sie nach seinem Lehrmeister, um ihre kleinen Debatten und größeren Streite zu lösen. Kenjis stark ausgeprägte Menschenkenntnis bewahrte ihn nicht selten davor, größere Fehler in seinen Entscheidungen zu treffen. Von Pyrrhon hatte er gelernt, das die besten Lösungen häufig die Art von Kompromiss waren, in dem zunächste beide Parteien sich als Verlierer sahen. Nicht selten ließ man Kenji zunächst nur in großem Unmut ziehen, nur um dann Wochen später bei seinem nächsten Besuch in große Dankesreden zu verfallen.
Gerade auch die Lektüre der theranischen Historie lieferten ihm mehr als einmal Beispiele von fairer Rechtssprechung, auf denen aufbauend er für den vorliegenden Fall eine solide Grundlage für eine Entscheidung schaffen konnte.
Während seine Zeit außerhalb von Bibliothek und Tempel also stets erfolgreicher und befriedigender für Kenji wurde, verdüsterte sich die andere Hälfte seiner Eindrücke zusehends. Sowohl Pyrrhon, als auch der Botschafter waren in den folgenden Monaten stets von einer Aura der Sorge und der dunklen Ahnungen umgeben. Obwohl sein Lehrmeister sich allem Anschein nach große Mühe gab, Kenji nicht in die Angelegenheiten zu verwickeln, verstand er wohl so viel, dass etwas in der theranischen Politik sich ganz und gar nicht in die Richtung entwickelte, die sich Gaius und Pyrrhon erfhofft hatten. Inzwischen hatte sich Kenji so viel angelesen, dass er begriffen hatte, das die Position des Botschafters wenig bis gar nichts mit politischer Macht zu tun hatte. Doch die weitere Familie, speziell ein Schwager des Gaius Octavius namens Silvius Insidiae, machte den beiden Freunden aus Kenji bislang unbekannten Gründen offenbar große Sorgen.
Zudem gingen die Forschungen, Kenji hatte aus Gesprächsfetzen und seiner Observation, welche Bücher die anderen Besucher der Bibliothek nutzen, schon lange ausgemacht, dass es irgendwie um die Plage ging, wohl nicht so entscheidend voran, wie sie es wohl gehofft hatten. Jedenfalls konnte Kenji von seinem beobachtenden Standpunkt keine bedeutenden Entwicklungen ausmachen.
Zusätzlich zu dem ganzen Unglück bemerkte der junge Questor noch ein ganz persönliches, tragisches Schicksal eines jungen Individuums. Nach dem Zwischenfall auf den Wiesen hatte er sie nur noch alleine auf dem Anwesen herumstreifen sehen. Manchmal sah er sie konzentriert in der Bibliothek lernen; ein andernmal übte sie mehr schlecht als recht unter den verzweifelten Blicken ihrer Lehrer dieses oder jenes theranische Instrument zu spielen. Aber lächeln, geschweige denn unbeschwert lachen sah er sie nie mehr.
In gewisser Weise erinnerte ihn diese verlorene Unbeschwertheit, die die Jugend doch ausmachen sollte, an ihn selbst. Er war stets ein Fremder gewesen und geblieben. Der Waise. Der Ishturi. Der Questor. Sie war das edle theranische Mädchen mit den einprägsamen, tiefblickenden Ozeanen statt Augen. So gänzlich fremd und ihm doch so verwandt. Aber vielleicht suchte er auch nur nach jemandem wie ihr, einer Person, in die er seine Einsamkeit projezieren und damit weniger schmerzhaft machen konnte.
Ein anderes, doch nicht weniger tapfer ertragenes Schicksal war das des alten Questors Pyrrhon. Kenji sollte nie erfahren, welches Leben der Questor, der einst aus Lis gekommen war, früher geführt hatte. Doch es konnte kein leichter Weg gewesen sein. Nicht selten erwähnte er seine große Dankbarkeit gegenüber dem obsidianischem Lichtträger, der ihn in gewisser Weiße vor einem dunkleren Schicksal bewahrt hatte. Jetzt, auf seine alten Tage, ließ sein Körper ihn zunehmend im Stich. Pyrrhon, der Kenji anfangs noch im Stechschritt bei jeder Wanderung beinahe davonmarschiert war, verließ nur noch selten den Tempel. Seine Hüften schmerzten ihn und sein Augenlicht ergraute zusehends. Zunächst mochte er nur noch unter guten Lichtverhältnissen, später gar nicht mehr zu lesen. Doch tat er sich damit nicht unnötig schwer. Sein Geist blieb messerscharf, und was er nicht zu sehenden Zeiten auswendig gelernt hatte, lies er sich ohne falschen Stolz von seinem Schüler vortragen.
Auch wenn sich Kenji sicher war, das keine Ohnmacht seinen Meister umfing, redete er nun manchmal in scheinbar unerklärlichen Weisen. Auf seine Nachfrage erklärte Pyrrhon ihm, dass es den Göttern wohl gefiel, ihm zwei Augen zu schließen, nur um langsam ein drittes zu öffnen.
"Ich werde nicht mehr lange hier sein, Kenji. Der selbstsüchtige Mensch in mir hätte sich gefreut, die Früchte seiner Arbeit noch mitansehen zu dürfen. Aber ich bin nicht bitter. So sehr sie mich auch teilweise gequält haben mögen, so wurde mir doch von den Göttern reich eingeschenkt. Ein zweites und genug für ein drittes Leben."
Pyrrhon lag in den letzten Wochen viel und setzte jede zweite Mahlzeit aus. Er war abgemagert, mehr als gut sein konnte, aber diesbezügliche Diskussionen führten zu nichts.
"Meister, es gibt noch immer viel zu tun für euch. Ihr selbst habt gesagt, dies sind schwierige Zeit für die gottesfürchtigen Menschen von Kronstadt. Ihr werdet gebraucht!"
"Unsinn. Ich habe meine Aufgabe schon lange erfüllt. Das weiß ich jetzt. Der Rest war die Gnade der Götter. Doch langsam wird die Gnade zur Qual für mich. Das Geschenk ist verdorrt. Die Zukunft gehört den Wagemutigen. Ich aber bin stets ein Zweifler geblieben."
Kenji wurde zusehends unruhig. Nun, wo er darüber nachdachte, war Pyrrhon in den letzten Monaten fast sichtbar schnell gealtert. Er konnte doch jetzt nicht einfach sterben!
"Ihr esst einfach zu wenig. Ich mache Euch eine reichhaltige Suppe, dann sieht es morgen schon ganz anders aus."
Pyrrhons knochige Hand tastete nach Kenjis Arm und ergriff ihn mit überraschender Stärke. Er öffnte die milchweißen Augen.
"Hör mir zu, Kenji. Es gäbe noch so viel zu sagen. Aber die Zeit ist knapp. Ich habe drei Bitten an dich. Tu einem alten Mann einen Gefallen und gewähre ihm drei bescheidene Wünsche."
Kenji hatte die Ahnung, dass diese so bescheiden nicht würden, aber er bejahte die Bitte mit einem Knoten in der Brust.
"Es mag dir wie eine Lüge vorkommen. Aber es ist nur eine Frage der Perspektive. Wenn Gaius oder Archorbar dich fragen, sag ihnen, ich sei in Frieden gestorben. Denn so wird es gewesen sein. Ich bin mit mir und den Göttern im Reinen. Nach all der Zeit habe ich glaube ich... verstanden."
Keni verstand nicht, aber er nickte, nicht daran denkend, dass der erblindete Erzquestor dies nicht wahrnehmen konnte. Doch Pyrrhon fuhr einfach fort.
"Zweitens. Ich habe es nicht gleich gesehen, aber nun wird es mit jedem Tag klarer. Du bist auf eine Weise, die sich schwer in Worte fassen lässt, mit dem Schicksal der Familie Aequus verbunden. Achte auf sie. Es wird eines Tages von großer Bedeutung sein. Wenn du scheiterst, wird großes Leid folgen. Beschütze sie mit all deiner Kraft!"
Kenji wollte fragen, wie denn ein einfacher Questor eine so mächtige Familie beschützen sollte - und vor was. Aber Pyrrhon hielt seinen Arm noch fester, das es fast wehtat.
"Und zuletzt. Finde heraus, wer... du bist. Kenjiro Asai? Wer... bist du..."
Kenji blickte irritiert auf. Unter den blinden Augen seines greisen Lehrmeisters flackerte etwas auf. Dann ließ ihn die knochige Hand los. Etwas, für das Kenji keinen Namen hatte, geschah mit dem alten Questor. Als er weitersprach, für einen Moment, hatte sich seine Stimme verändert. Es war dieselbe Stimme, aber auch eine ganz fremde.
"Wer.. Wer bist du?"
Kenji verstand erst nach Sekunden. Pyrrhon erkannte ihn nicht. Er erinnerte sich nicht.
"Wer... Wachen! Wachen!"
Pyrrhons Stimme wurde schrill, überschlug sich. Dann bäumte er sich auf, er krampfte und versuchte, blind um sich zu schlagen. Kenji hielt ihn zunächst fest, dann ließ er von dem alten Mann ab und sprang panisch auf. Pyrrhons Antlitz veränderte sich. Die Haut in seinem Gesicht straffte sich, wurde dünn... und riss. Seine geweiteten Augen starrten blind und schmerzverzerrt in seine Richtung, Blut lief aus den Augenhöhlen über die nun blanken Wangenknochen. Ein erstickender und zuletzt in Gurgeln untergehender Schrei entfuhr dem Sterbenden. Die Haut auf seinen Armen und unbedeckten Beinen wurde zu durcheinendem Pergament und fiel von ihm ab. Dann klappten seine Lungen zusammen, die Brust fiel in sich ein. Mit einem lauten Zischen entwich die Luft aus der kollabierten Lunge. Das offene, faulende Fleisch blubberte, als ob es kochte, dann wurde es schwarz und zerfiel letzten Endes zu Staub. In weniger als einer Minute war von dem Erzquestor nur mehr ein staubiges Skelett geblieben. Kenji wandte sich in Grauen ab und übergab sich.
Nachdem er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, beerdigte er die Überreste seines Lehrmeisters. Danach, Mit erdverschmierter Robe, völlig geistesabwesend, verließ er den Tempel in Richtung des Anwesens der Aequus. Mit tonloser Stimme bedeutete er dem Pförtner, dass er wichtige Nachricht für den Botschafter brachte. Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, wurde er schließlich vorgelassen. Er traf den Botschafter in seiner Nachtrobe vor. Er wartete, wie es üblich war, im großen Atrium.
Kenji richtete in feinstem Theranisch das Wort an ihn. "Verzeiht die nächtliche Störung, Botschafter, aber ich komme mit trauriger Nachricht. Mein weiser und gerechter Meister, euer treuer Freund Pyrrhon von Lis ist heute mit dem Sonnenuntergang verstorben." Dieses eine Mal erlebte Kenji einen klaren Bruch der Etikette von dem Mann, den er über all die Jahre so diszipliniert gesehen hatte. Dieser schaute zunächst sehr betroffen, dann sah er den leeren Blick von Kenji und umarmte ihn kurzerhands. Kenji, innerlich taub, war unfähig darauf zu reagieren. Schließlich stellte Gaius Octavius Aequus die entscheidende Frage, wegen der Kenji gekommen war. "Wie ist er gestorben?" "Botschafter. Mein Meister ist friedlich gestorben." Der alte Freund des Erzquestors schaute erleichtert.
Schatten über Kronstadt (345-350 i.J.P.)
Keine der Bitten seines nun verstorbenen Lehrmeisters ließ Kenji in den folgenden Jahren in Ruhe. In Anbetracht des plötzlichen Todes und aufgrund der durchweg positiven Aufzeichnungen Pyrrhons wurde entschieden, Kenji ohne weitere Umschweife zum vollwertigen Mitglied der Kurie zu ernennen. Questor Kenji übernahm damit zunächst de facto alle vorherigen Aufgaben seines Meisters, natürlich ohne die Weihen eines Erzquestors. Es war nicht ungewöhnlich, in so einem Falle für eine beschränkte Zeit einen einfachen Questor das Behüten eines Tempels übernehmen zu lassen. Es wurde zwar erwähnt, das zu einem noch unbekannten Zeitpunkt ein neuer Tempelvorstand berufen werden sollte, jedoch gab es in diesen unsicheren Zeiten wichtigere Belange. Kenjis Ruf war - womöglich auch durch Verdienst des Botschafters sowie des Lichtträgers Archorbar tadellos unter seinesgleichen, wenn auch die wenigsten ihm je persönlich begegnet waren und seine Jugend innerhalb der Kirchenvertreter mit einem natürlichen Leichtsinn verbunden wurde.
Er bewahrte das grimmige, unheilige und womöglich schwarzmagische Ende seines Meisters für sich. Er hatte einige Male in Erwägung gezogen, Morea einzuweihen; er ahnte, dass sie sich womöglich in solcher Materie besser auskannte, als sie vorgab - entschied sich dann aber stets dagegen, weil er sie damit in eine Situation brächte, etwas vor ihrem Mann geheim halten zu müssen. Zudem war nun auch das letzte Lächeln aus den Gesichtern der Familie Aequus gewichen. Gaius und Morea waren vermehrt nur noch aus der Ferne sichtbar. Von Octavia war keine Spur mehr. Kenji brachte nur mit großer Mühe aus der Bediensteten, die ihn einst Theranisch gelehrt hatte, heraus, dass sich die junge Frau tatsächlich noch auf dem Anwesen aufhielt. Aber sie weigerte sich auf Nachfrage standhaft, ihm ihren genauen Aufenthaltsort zu verraten.
So war und blieb es für Kenji schwer vorstellbar, was Pyrrhon mit seinen prophetischen Worten gemeint haben könnte. Eine Verbindung zwischen ihm und der edlen theranische Familie. Seine schützende Hand, die irgendein dunkles Schicksal von einem Mitglied der Familie (oder der ganzen Familie?) abwenden sollte. Es ergab alles keinen rechten Sinn. Und was meinte er mit der Frage, wer er, Kenji, sei? Da ihm als Vollwaise, der einst an den Pforten des Tempels abgegeben worden war, keine Spur in seine Vergangenheit mehr offen war, musste Pyrrhon es symbolisch gemeint haben. Er musste seinen Platz in der Welt noch finden. Sicher, sein Leben in die Hände der Götter zu geben, der Passion der Gerechtigkeit ein profundes und dienliches Werkzeug zu sein, war eine hehre Aufgabe. Aber ohne sich und seine Aufgaben zu begreifen, war er eben auch nicht mehr als ein dumpfes, seelenloses Werkzeug. Er musste all das Wissen, das er sich über die Jahre angelesen hatte, nicht nur als Tinte auf alten Leinen begreifen, sondern als Schlüssel zu einer höheren Wahrheit. Er wollte nicht so vermessen sein, nach Erleuchtung zu streben. Aber etwas da draußen - oder tief in ihm drinnen - wollte verstanden werden. Waren das nicht auch Pyrrhons letzte klare Worte gewesen? Das er etwas verstanden hatte?
Er musste an die Worte eines theranischen Dichters denken:
Denke daran, daß das,
was dich wie an unsichtbaren Fäden hin- und herzieht,
in deinem Inneren verborgen ist.
Die Welt verstehen, hieß demnach sich selbst zu ergründen, und umgekehrt. Kenji war diesem scheinbar widersprüchlichen Dualismus schon häufiger begegnet, wenn es um die theranische Dichtung ging. Sie war im Gegensatz zu der Dichtung hier in Barsaive häufig hochbrisant, sowohl was die politische, als auch die philosophisch-theologische Ebene anging. Die Theraner, den Göttern und insbesondere ihrem Gottkaiser bis in den Tod ergeben, sahen darin keinen Widerspruch. Der brilliante Geist forderte alles heraus und kannte nur wenige Tabus. Kenji kam nicht umhin, diese Einstellung in der theranischen Dichtung zu bewundern.
Die nächste, große Zäsur im Leben des Questors kam nicht weniger überraschend als der jähe Tod seines Lehrmeisters. Im dreihundertundsiebenundvierzigsten Jahre der Passionen brach er des morgens, wie unzählige Male zuvor, zum Anwesen des Botschafters auf. Doch als er die große, eiserne Pforte erreichte; als die Sonne gerade über das Kliff im Osten kletterte und den Morgentau auf der nassen Wiese glänzen ließ, blieb ihm der Zugang von einem Dutzend schwer gerüsteter theranischer Soldaten versperrt. Dem Banner nach handelte es sich um Truppen aus Travar. Die Leibgarde des Schwagers vom Botschafter, dachte Kenji.
"Bei den Passionen, was ist hier los?", fragte er. Doch die Soldaten bedeuteten ihm nur mit unmissverständlicher Gestik, das er sich davon scheren sollte. Er wich unmutig etwas vom Tor zurück um auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Nach einiger Zeit hastete der gebückte Pförtner zum Questor. Unter vorgehaltener Hand flüsterte er: "Werter Questor, bitte geht. Es ist hier nicht sicher. Die Truppen von Silvius Insidiae verhaften hier wahllos sogenannte Verdächtige." "Verhaften? Verdächtige? Was geht denn hier vor sich?" "Ihr wisst es noch gar nicht? Es gab einen feigen Anschlag. Der Botschafter ist tot. Ebenso seine Frau und Tochter, so heißt es." Der Pförtner wirkte den Tränen nah. "Ich habe gehört, wie es die Köchin der Magd erzählte. Sie hat die Soldaten belauscht. Der gute Herr wurde wohl erstochen und die Frauen wurden die Klippen herabgestürzt. Aber bei den Göttern? Wer würde so etwas tun?" "Bei allen Passionen. Danke für die Nachrichten, so schrecklich sie auch sind. Schnell, geht an Euren Posten zurück, bevor man euch noch vermisst."
Der Pförtner huschte wieder davon. Kenjis Gedanken schwirrten. Die Gefahr hatte sich in keinster Weise angedeutet. Ein Attentat? Gaius Octavius. Morea. Octavia! Diese herzensguten und unschuldigen Theraner. Wer sollte ihnen etwas Böses gewünscht haben, geschweige denn sie in Nacht und Nebel umbringen wollen? Kenji kehrte zurück in den Tempel ohne zu wissen, was nun zu tun sei. Hatte er versagt? Und was würden diese schrecklichen Ereignisse nun bewirken? Gaius Octavius Aequus war stets ein ruhiger Pol in einem schwelenden Konflikt gewesen, eine weise Stimme der Vernunft in einer Welt, die in den letzten Jahren düsterer und unheilvoller geworden war. Hatten seine Forschungen vielleicht doch zu einem Ergebnis geführt? Hatten ihn seine alten Konflikte im Kernreich nun doch noch hier im weit entfernten Barsaive erreicht? Hatte es gar etwas mit den Geheimnisses Moreas zu tun gehabt? Was auch immer dahinter steckte, was sollte er als einfacher Questor tun? Ihm war ja nicht einmal möglich, das Anwesen ohne Erlaubnis zu betreten. Natürlich war er als Mynbrujequestor in seinem Amt zu respektieren. Aber erwartete er wirklich, dass Silvius Insidiae, der mit seinen Soldaten höchstpersönlich (und erstaunlich schnell) angerückt war, ihm die Verantwortung in dieser Situation überließ? Es war kein Geheimnis, dass nicht alle Theraner hier in Barsaive die hiesige Rechtssprechung akzeptierten. Es brauchte keinen Hellseher, um Insidiaes Meinung diesbezüglich einzuschätzen.
Und selbst wenn er sich irgendwie, etwa mit Unterstützung des Rats durchsetzte; den Tod der Familie konnte er nun nicht mehr verhindern. Vor seinem inneren Auge zogen die Gesichter der Familie an ihm vorbei. Das Sinnbild der theranischen Tugenden - Gaius Octavius Aequus. Erstochen von feigen Mördern in der Nacht. Seine bildhübsche und geheimnisvolle Frau Morea. Die ihm gegenüber stets so freundlich und zuvorkommend war, obwohl er spürte, dass er ihr nie etwas hatte vormachen können. Sie hatte schon bei ihrem ersten Treffen den Straßenjungen gespürt, der sich als Questor verkleidet hatte. Und doch hatte sie deswegen nie auf ihn hinabgeblickt oder gar sein Geheimnis verraten.
Und Octavia. Das gerade zuletzt so stille Mädchen mit den feinen Gesichtszügen und diesen Augen, die ihn nie ganz losgelassen hatten, nachdem er sie das erste Mal erblickte. Er hatte versagt. Er hatte sie nicht beschützt, obwohl er es Pyrrhon doch versprochen hatte. Obwohl er es sich versprochen hatte.
Da er nicht wusste, ob er jemals wieder die Kraft finden würde, sich zu erheben, wenn er nicht gleich etwas unternahm, wurde er schon wenige Tage später beim Rat von Kronstadt vorstellig. Doch bevor er seinem Anliegen Gehör verschaffen konnte, richtete man das Wort an ihn. "Gut das Ihr kommt, Questor Kenji. Wir wollten soeben nach Euch schicken lassen. Es gibt wichtige Neuigkeiten. Wie uns der ehrenwerte Statthalter Silvius Insidiae berichten konnte, wurden die Täter des feigen Attentats auf den Botschafter und seine Familie ausgemacht. Es handelt sich dabei um Barsaivsche Rebellen, die in ihrem blinden Hass gegen die Theraner den Frieden destabilisieren wollen. Seine Truppen verfolgen bereits zu dieser Stunde ihre Spur." "Gibt es dafür Beweise?" "Hütet lieber Eure Zunge, Kenji. Weil ihr ein Questor des himmlischen Richters seid und von bisher unzweifelhaftem Rufe, sollen Euch diese unbedachten Worte verzeihen werden. Aber vergesst nicht, Silvius Insidiae vertritt in politischen Angelegenheiten in und um Travar das theranische Reich und damit den Kaiser. Ihr wollt in diesen unruhigen Zeiten nicht den Drachen reizen." Der Ratsherr fügte etwas milder hinzu: "Das ist doch genau, was die Attentäter wollen." Kenji biss sich auf die Zunge, um eine noch unbedachtere Entgegnung zu verhindern. "Noch etwas, Ratsherr?" "Ja. Silvius Insidiae hat Marcus Vulturius Vorax als Ersatz für den verstorbenen Botschafter - die Götter schützen ihn - vorgeschlagen. Der Rat hat dies einstimmig angenommen."
Nur wenige Tage später schickte der Rat eine verlesene Botschaft in den Tempel des Mynbruje.
"Questor! Der Rat von Kronstadt erlässt hiermit augenblicklich folgendes Dekret zur Einschränkung der Rechtssprechung der Questoren Mynbrujes: Ab sofort dürft Ihr weder Gericht halten noch Urteile fällen. Allein die legitimen Gesetze werden zukünftig über Recht und Unrecht entscheiden."
Kenji sprang von seinem Betstuhl auf.
"Das könnt Ihr nicht tun! Botschafter Aequus hat stets die einheimischen respektiert, da er wusste, welche Bedeutung die Urteile der Questoren für die Bevölkerung besitzen."
Sein Protest wurde mit einem widerlichen, abfälligen Grinsen des Boten beantwortet.
"Vergesst nicht, dass Aequus tot ist. Ihr solltet Eure Aufgaben besser auf seelsorgerische Dienste beschränken. Sonst wird das unangenehme Konsequenzen für Euch haben."
Mit dem Untergang des Hauses Aequus wurde ein neues, dunkles Kapitel von Kronstadt aufgeschlagen. Neben diesen ersten Dekreten folgten noch weitere, die der alte Botschafter niemals zugelassen hätte. Vorax war offensichtlich nichts als eine Marionette Insidiaes und der Rat wollte oder wagte kein Aufbegehren. Kenji wurde nicht mehr in das Anwesen vorgelassen; die Forscher und Magier, die nicht ohnehin schon gegangen waren, wurden zum Verlassen des Anwesens gezwungen und ein Großteil der Bediensteten entlassen.
Kenji übte stillen (und faktischen) Protest, indem er heimlich weiter für Recht und Ordnung unter der Bevölkerung sorgte. Dies ging eine Weile gut, doch einige Monate später klopfte gegen abend jemand an die Pforte seine Tempels. Er war gerade dabei, den Gebetsraum zu fegen und bat den späten Gast rufend herein. Als eine Weile niemand erschien, lehnte er schließlich den Besen gegen eine Bank und schaute selbst nach, wer denn da geklopft haben mochte.
Die verhüllte Gestalt war klein und gebeugt. Er bückte sich, um auf Augenhöhe zu gelangen. Er erkannte an ihren Bewegungen, dass es sich um eine alte Frau handeln musste. "Was ist denn, Mütterchen... moment, ich kenne Euch!" Die alte Frau hatte ein eingefallenes Gesicht. Eines ihrer Augen war zugeschwollen. Trotzdem erkannte er seine alte Lehrerin. "Bei allen Göttern, was ist mit Euch geschehen?" "Questor, kümmert euch nicht um eine alte Frau. Bringt Euch lieber selbst in Sicherheit." "Ich, in Sicherheit? Wovon redet Ihr?" "Einer der Bauern, gegen die Ihr entschieden habt, hat Euch verraten. Vorax lässt nach Euch schicken. Er will Euch verhaften lassen. Der Einfluss meines guten Herrn Aequus hat Euch über seinen Tod beschützt, aber er ist jetzt vergangen." "Hat Vorax Euch so zugerichtet?" "Er hat bemerkt, dass ich ihn belauscht habe. Aber er weiß nicht, was ich alles gehört habe. Bitte flieht. Ich will nicht, das mein guter Herr umsonst gestorben ist."
Kenji schaute sich um. Außer seinem Wanderstab brauchte er an sich nicht viel. Aber er konnte doch die guten Menschen von Kronstadt nicht im Stich lassen!
"Wieso umsonst gestorben? Bitte geht nicht zurück zu diesem falschen Botschafter, diesem schändlichen Frauenschläger."
"Ich musste doch bleiben."
"Was? Wieso? Ihr wart der Familie immer eine gute Dienerin. Ich bin sicher, sie waren immers stolz auf Euch. Sie werden es Euch nicht übelnehmen, wenn ihr Euch vor Vorax in Sicherheit bringt."
"Das meine ich doch nicht, dummer Junge. Ich musste bleiben, damit ich ein Geheimnis waren konnte."
"Was für ein Geheimnis?"
"Octavia lebt. Sie ist damals entkommen. Ich habe es selbst gesehen. Und Ihr müsst sie bitte finden."
Informationen für Kenjis Biografie
Octavia hat das Anwesen während ihrer Kindheit nur selten verlassen. Sie führte ein von anderen Kindern sehr isoliertes Leben und außer ihrem Bruder besaß sie keine Spielgefährten. Wenn man sie als ganz kleines Mädchen also in den Gängen beobachten konnte, spielte sie meist allein. Da Octavia ebenfalls eine strenge Erziehung erhielt, gehörte Spielen aber auch nicht zu ihren vorgesehenen Aufgaben. Als Kind verbrachte Octavia ihre Zeit deshalb damit, alles über Etikette und Manieren zu lernen und oft konnte man beobachten, wie sie von der Mutter oder der Amme gemaßregelt wurde, da ihre Kleidung nicht richtig saß oder ihre Körperhaltung nicht aufrecht genug war. Octavia wirkte dann manchmal etwas aufmüpfig, versuchte aber immer die Forderungen ihrer Erzieher letztendlich zu erfüllen. Oft konnten Phyrron und Kenji in der Bibliothek hören, wie Octavia von ihrem Musiklehrer lautstark gerügt wurde, während er ihr im Atrium verzweifelt das Lyraspiel beizubringen versuchte. Stand die Tür in der Bibliothek offen, konnte man ihrem Spiel lauschen und sogar einen Blick auf die übende Octavia erhaschen. Über die Jahre hatte diese sich tatsächlich zu einer hervorragenden Musikerin entwickelt und mit ihrem eleganten Fingerspiel schließlich sogar ihren strengen Lehrer zum Applaudieren gebracht. Da auch die Bildung der Mädchen eine hohe Bedeutung in Thera hat, konnte man Octavia mit ihrem Lehrer auch sehr häufig in der Bibliothek antreffen. Ihr persönlicher Lehrer war extra aus Thera angereist und führte einen strengen Unterricht, bei welchem Octavia einiges abverlangt wurde. Manchmal konnte man beobachten, wie sie gedankenverloren aus dem Fenster starrte und dann von ihrem Lehrer ermahnt werden musste. Mit einem Seufzen versuchte sie sich dann wieder auf ihre Bücher zu konzentrieren und die Anforderungen des Lehrers zu erfüllen. Die einzigen Momente, in denen man Octavia ausgelassen und sich wie ein Kind verhaltend sehen konnte, war wenn sie ein wenig der raren Freizeit mit ihrem Bruder genießen konnte. Gemeinsam unternahmen sie dann Ausritte an der Küste oder verbrachten ihre Zeit in den großen Gärten des Anwesens. Nachdem Augustus im Alter von 14 Jahren schließlich seine militärische Ausbildung antrat und nach Thera ging, traf man Octavia nur hin und wieder außerhalb der Familiengemächer an. Sah man sie zufällig außerhalb des Hauses wirkte sie eher gelangweilt und niedergeschlagen. Auch die Melodien, die sie auf ihrer Lyra spielte, wurden immer melancholischer bis man irgendwann gar keine Musik mehr aus dem Atrium hörte. Die jugendliche Octavia sah man nur noch selten, da sie sich anscheinend meistens in ihrem Schlafgemach aufhielt. Am Rande des Anwesens gab es jedoch einem Aussichtsplatz auf einer Felsspitze über der Steilküste, an dem man sie hin und wieder beobachten konnte. Fuhr man die Straße von Kronstadt zu dem Anwesen hinauf, konnte man sie dort auf einer Bank sitzend und auf das Meer hinaus blickend sehen. Als Octavia 15 Jahre alt war begannen die Konflikte zwischen ihrem Vater und ihrem Onkel Silvius Insidiae, der zu der Zeit Stadthalter in Travar war, zu eskalieren. Die ganze Stimmung auf dem Anwesen wirkte damals angespannt und düster, als würde die tödlich drohende Zukunft von Octavias Eltern bereits erste schicksalshafte Schatten auf die Familie werfen. Octavias Eltern konnten ihre Sorgen kaum noch verbergen und Octavia verließ ihr Gemach nun schon länger nicht mehr. Nach dem Attentat an Aequus erfuhr Kenji, dass nicht nur der Botschafter, sondern auch seine Frau und Tochter getötet worden seien. Offiziell gab der Rat von Kronstadt an, dass die Attentäter fanatische Freiheitskämpfer aus dem Westen Barsaives gewesen seien. Das Anwesen wurde innerhalb kürzester Zeit von einem anderen Botschafter übernommen, aber die Familie der Octavier wurde noch lange von den Kronstädtern vermisst, da sie ein gutes Verhältnis zu dem gerechten Botschafter gepflegt hatten.
Prinzipien theranischer Provinzialverwaltung
Theraner pflegen keinen Kulturimperialismus. Da sie Kultur im Allgemeinen große Verehrung entgegenbringen, achten und schätzen sie die Götter, Bräuche und Traditionen der jeweiligen Provinzen und zeigen sogar reges Interesse an ihren mannigfaltigen Ausprägungen. Von allen Kulturen auf Aloran erachten sie ihre eigene dabei als die edelste, haben aber kein Interesse daran, diese anderen aufzudrängen. Im Gegenteil halten sie ihre kulturellen Errungenschaften eher exklusiv zurück und nutzen sie als Werbung, um anderen Völkern den Anschluss ans Imperium schmackhaft zu machen. Ihr Interesse an den Provinzen ist lediglich ein finanzielles und ihr Ziel ist es, den großen Kostenaufwand zu decken, den ihr riesiges Weltreich zu seinem Erhalt benötigt. Da Kriege sehr teuer sind, vermeiden sie diese lieber und setzen immer zuerst auf diplomatische Strategien, um eine neue Provinz zu gewinnen.
Zu den Prinzipien theranischer Provinzialverwaltung gehört es, die bestehenden Verwaltungs- und Rechtsinstitutionen in dem jeweiligen Gebiet/Land so weit wie möglich zu erhalten (wenn solche überhaupt vorhanden waren, was in den Provinzen außerhalb Theras meist nicht der Fall war).
Der theranischen Verwaltung in den Provinzen unterliegen
- die Entscheidung über Steuern,
- die Verhängung der Todesstrafe und
- das Militär in der jeweiligen Provinz.
Diese Aufgaben werden mittels eines kleinen Stabes um den Statthalter organisiert. Die Steuereintreibung, die Sache von Beamten ist, ist so flächendeckend gerade in großen Provinzen schwer durchzusetzen, weshalb man Lizenzen zur Eintreibung der Gelder an die lokalen Eliten vergibt, die damit die Steuerschuld ihrer Umgebung auf sich luden und die Abgaben zur weiteren Abführung selbst einzogen. Echte Theraner aus dem Kernreich sind deshalb nur selten in den Provinzen anzutreffen und wenn handelt es sich meist maximal um den Statthalter und seine Familie.
Für die Bevölkerung der Provinzen – sofern sie nicht zur Oberschicht gehört, die ihre Privilegien verlieren – ist dies in der Regel eine Verbesserung der Lage, ist sie doch nicht mehr der Willkür lokaler Despoten ausgesetzt. Allein die Tatsache, dass lokale Instanzen keine Todesstrafe verhängen können, führt für viele Provinzialen zu einer vor der theranischen Herrschaft nie gekannten Rechtssicherheit. Auf die Tatsache, dass es der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit unter theranischer Herrschaft besser geht als vorher, ist auch zurückzuführen, dass in den fast 700 Jahren theranischer Provinzialverwaltung nur zu wenigen Aufständen gegen Thera kam.
Hauptproblem Theranischer Provinzialverwaltung ist die Ausbeutung der Provinzen durch den Statthalter. Da theranische Regierungsbeamte kein Gehalt beziehen, den sehr teuren Wahlkampf und die Amtsführung aus eigener Tasche bezahlen müssen, sind sie nach Ablauf ihrer Regierungszeit häufig mittellos. Kommen sie dann als Statthalter in eine Provinz, versuchten sie sich dort finanziell zu sanieren. Die Theraner sagen dazu: „Arm kam er in die reiche Provinz, reich verließ er die arme.“ Die Provinz kann dagegen in Thera klagen, hat aber ohne einen guten Prozess-Anwalt jedoch nur geringe Chancen. Zusätzlich kontrolliert der Kaiser seine Statthalter, um die Ausbeutung der Provinzen zu vermeiden. Bekannt als einer dieser ausbeuterischen Statthalter ist Silvius Insidiae, der nicht nur Travar durch unerhörte Steuern schröpfte, sondern sogar seine Gewalt über das travarer Heer ausnutze, um Lüderitz damit ohne das Wissen des Kaisers anzugreifen.
Information Mamercus Porcius Mucus
Mamercus (Mam.) Porcius Mucus: Er ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet alter Kulturen und überall in der theranischen Wissenschaft spricht man seinen Namen mit Hochachtung aus. Mamercus Porcius Mucus hat an der Akademie von Thera Geschichte der Ishturi-Völker gelehrt und dazu einige Standardwerke verfasst.
Letzte Nacht
Sie wusste, um wen es sich handelte, einen Augenblick bevor seine warme und ruhige Stimme ihren Namen aussprach. "Talina." Sie blickte von ihren Unterlagen auf und wandte sich zu dem Questor um, der einige Schritte von ihr entfernt stand und sie mit seinen großen, traurigen Augen ansah. Seit sie ihn das erste Mal getroffen hatte, war dieser leidgeprüfte, nachdenkliche Blick nie ganz aus ihnen gewichen, egal wie sehr sie versucht hatte, ihn davon abzulenken. Sie erhob sich und ging ihm entgegen, und er umarmte sie ganz so, wie sie es sich sehnlichst gewünscht hatte. Es dauerte keinen ganzen Augenblick, da spürte sie, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Aber sie wollte den Moment noch ein wenig bewahren, damit sie ihn nicht vergessen würde, also tat sie so vor sich selbst, als ahnte sich nichts, und drückte ihre Nase in den weichen Stoff seiner Robe, die ganz sanft nach ihm duftete. Schließlich wich er behutsam zurück und sie blickte zu ihm auf. "Ich dachte mir schon, dass du noch wach bist, Talina. Du hast nie gut geschlafen. Das hatten wir immer gemeinsam." "Was ist denn los, Kenji?" "Komm mit, ich will dir etwas zeigen."
Es war eine kühle Nacht, der Atem bildete kleine Wölkchen vor ihren Mündern, wenn sie redeten. Sie standen in der Gasse vor dem Besitz ihres Vaters, in dem sie ihre kleine Zuflucht eingerichtet hatte. Über ihnen schien der Mond auf das schlafende Kronstadt. Das Pflaster glitzerte vom Raureif und der Questor blickte aus unerfindlichen Gründen zu den spärlichen Wolken hinauf. "Was willst du mir denn zeigen, Kenji? Hat das nicht auch Zeit bis morgen? Es ist tiefste Nacht und die Sterne funkeln uns an, weil sie sich fragen, warum wir noch auf sind." "Aber darum geht es ja gerade, Talina. Siehst du das Sternenbild da? Die Theraner schreiben es Silenda zu. Die Elben nennen sie Ithildim. Wir kennen sie als Nauda. Viele Bauern denken, der Mond ist Naudas Zeichen, aber das ist eine unvollständige Sicht der Dinge. Verfolg einmal diese Linie dort... siehst du es?" "Es führt direkt zur Mondsichel." "Diese Konstellation hat das Sternenbild nur zwei Mal im Jahr. Einmal jetzt, und einmal, mit umgekehrten Vorzeichen, wenn die Ernten anstehen. Die Bauern benutzen es für ihre Planungen, damit sie nicht vom Wetter überrascht werden. Seit dem Auftreten der Plage sind Vorhersagen für sie schwierig bis unmöglich, aber Nauda lässt sie nie im Stich. Ohne sie würden viele Barsaiver jedes Jahr hungern." "Aber das weiß ich doch. Ich habe das Heiligtum schon mehrfach besucht. Es ist nur eine Tagesreise weit entfernt. Was willst du mir wirklich erzählen?" Kenji schaute jetzt nicht mehr in den Himmel. "Nauda behütet alles verborgene Wissen, heißt es. Vielleicht zu unserem Besten. Und doch hoffe ich, dass sie mir eines Tages mehr zugesteht, als diese vermaledeiten Visionen. Ich weiß nicht, was sie mir sagen möchte. Beim besten Willen nicht. Ich war in einem anderen Heiligtum im Norden, weisst du. Ich habe gebetet. Gefleht, geschriehen; umsonst. Es hat etwas mit meiner Vergangenheit zu tun. Wenn Pyrrhon noch leben würde, könnte er mir vielleicht helfen. Aber den Göttern hat es gefallen, auch ihn zu nehmen. Wie so vieles." "Du meinst mit deiner Kindheit?" "Noch früher. Mit meiner Geburt. Es begann am Anfang. Wie so vieles. Talina. Ich muss dir nichts über Bestimmung erzählen. Niemand auf der Welt - in meiner Welt, heißt das - weiß darüber mehr als du. Wie war das? Ein Leben für ein Leben? Du warst noch so klein. Und doch hast du intuitiv und ohne jede Ausbildung mehr verstanden als die ganzen Gelehrten. Die Götter sind fair, aber grausam. Du tauschtest dein Leben für das deines Vaters. Und obwohl du nur ein unbedeutendes Mädchen aus dem unwichtigen Kronstadt warst, geschah das Wunder und die Götter erhörten dich!" Talina spürte, das ihr der Verlauf des Gespräches nicht behagte. Doch auf was wollte Kenji hinaus? In ihrem Inneren rumorte es, doch sie vermochte nicht, ihn aufzuhalten. Aus ihr kam kein Wort. "Ich verstand das, weisst du. Damals wie heute. Wirklich. Natürlich war es Unsinn. Die Götter würden dir das geschenkte Leben deines Vaters nicht wieder stehlen, wenn du der Garlen deine Dienste versagt hättest, um bei mir zu sein. Aber du spürtest, dass etwas falsch war. Das es Unrecht war. Also hörtest du auf den Teil deines zerissenen Herzens, der den Göttern zugetan war. Es muss nach Bitterkeit klingen, wenn ich so trocken davon erzähle, aber das ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Ich habe dich immer für deinen starken Glauben bewundert. Ihm nachgestrebt. Tatsächlich habe ich sogar versucht, nach deinem Vorbild zu handeln. Als ich Octavia, die Totgesagte wiedertraf, spürte auch ich den Wind der Bestimmung ganz deutlich über mein Angesicht streifen. Und weil ich nach Naudas Gesicht spürte, dass die Reise in den Norden ein Opfer verlangte, war ich bereit, ein Leben für ein Leben zu geben. Ganz wie du für deinen Vater. Wenn die Götter nach Octavias Leben griffen, würde ich meines dafür geben. Doch sie nahmen Noah zu sich. Ich weiß nicht, was ihr Plan für mich war. Aber sie waren offensichtlich noch nicht fertig mit mir." Langsam formte sich die aufkommende Bitterkeit in ihrem Mund zu einem Wort. "Oc...tavia." "Ich weiß, es muss wie eine gemeine Ausrede klingen. Schicksal. Bestimmung. Aber darauf will ich gar nihct hinaus. Atme die kalte Luft, Talina, und hör in dich hinein. Riechst du das?" "Was, Kenji?" "In einer Stunde wird die Sonne aufgehen. Und die Götter mögen mich strafen, wenn ich nach all der Zeit das Lügen anfgange, aber ich glaube an Vorsehung. Doch glaube ich an einen Zwang? An unwiderbringliches Schicksal, das eintreffen wird, egal was wir dafür oder dagegen tun? Oh nein. Die Passionen haben diese Ebenen vor langer, langer Zeit verlassen. Vielleicht für uns, vielleicht auch aus anderen Gründen, die wir Sterbliche nicht begreifen können. Aber ich bin mir ganz sicher: Alles was sie tun, ist uns Pfade in der Nacht aufzuzeigen. So wie diese gepunktete Linie da oben, die den Bauern zeigt, wann sie ihre Saat auswerfen können. Zwingen die Götter uns, wann wir zu ernten haben? Nein. Aber wenn wir ihre Zeichen richtig lesen, müssen wir nicht frieren und nicht hungern leiden. Vielleicht haben die Götter dir geraten, Garlen zu dienen. Weil sie ahnten, dass du vielen Menschen helfen könntest. Aber die Entscheidung dazu hast nur du getroffen. Weil du an sie geglaubt hast. Hast du damit das Leben deines Vaters gerettet? Vielleicht. Wer weiß. Es lag nie in deiner Hand, so viel ist mir gewiss. Du konntest nur eine Entscheidung treffen. Für dich. Ich bin nicht hergekommen, um dir zu sagen, dass das Schicksal mich von dir fort und in Octavias Arme getrieben hat. Ich weiß nicht, was sie sich erhoffen. Die Entscheidung habe ich ganz alleine getroffen. Weil auch ich es in einem Teil meines Herzens spüre. Und ich muss daran glauben, dass ich auf den richtigen Teil höre. Wie du es mir beigebracht hast. Liebe Talina." Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie liefen nicht ihre Wangen hinab. "Was sagst du?"
Kenji blickte Talina erwartungsvoll an, doch diese wich nur wie in Trance einen Schritt von ihm zurück und blieb dann wie eine erstarrte Salzsäule stehen. Auch ihr Blick wendete sich von Kenji ab und ihre immer noch tränenleeren Augen senkten sich reglos zu Boden. Es war unmöglich ein Gefühl auf ihrem sonst immer so hoffnungsvollen Gesicht zu lesen und sie wirkte in sich gekehrt und blieb eine ganze Zeit lang wort- und regungslos auf der Stelle stehen. Kenji spürte, dass sich - hingegen ihrer äußeren Paralyse – in ihrem Kopf anscheinend ein ganzes Feuerwerk von Gedanken entlud und wusste, dass sie etwas Zeit brauchte, um auf seine Worte zu reagieren.
Irgendwann, als Kenji ihr Schweigen schon kaum noch ertragen konnte, begannen ihre zitternden Lippen sehr leise wieder Worte zu formen. „Was… soll ich dazu noch sagen?“ Bei diesen Worten wich sie noch einen Schritt weiter von Kenji fort in Richtung der Eingangstür ihres Elternhauses. Noch nie hatte die warme und mütterliche Talina so kalt und distanziert gewirkt und ihre Mimik glich einer theranischen Totenmaske. „Du hast dir das ja anscheinend ganz genau überlegt. Wie immer...“ Ihre Worte klangen pragmatisch und gefühlskalt, trotzdem konnte Kenji keinen direkten Vorwurf aus ihnen herauslesen.
Plötzlich hörten die beiden einen Schmerzensschrei aus Talinas Krankenstube. Dieser löste die Lähmung im Körper der pflichtbewussten Questorin. „Du… solltest zu deinen Freunden gehen. Ich.. ich… muss mich nun um einen Patienten kümmern.“ Kaum hatte sie dies ausgesprochen, hatte sie Kenji bereits den Rücken zugewandt, die Tür geöffnet und war in dem Haus verschwunden, so dass sie ihm keine Chance ließ, dieses für sie eindeutig schmerzhafte Gespräch weiterzuführen. Kenji blieb allein in der Kälte des Herbstmorgens zurück und spürte selbst, dass es besser sei, vorerst Abstand zu Talina zu wahren.