Pyrrhons Brief
Kronstadt, den 8. Boar 345 i.J.P.
Mein werter Schüler Kenjiro,seitdem das Rad des Schicksals unsere Wege zusammengeführt hat, habe ich verbergen müssen, was ich über dich und deine Bestimmung über die langen Jahre meines Lebens erfahren habe. Hingegen allem, wofür ein heiliger Questor des Mynbruje steht, habe ich die Wahrheit im Schatten gehalten und mit so vielen Geheimnissen gelebt, dass es mir häufig arge Zweifel und Gewissensbisse eingebracht hat. Aber all dies war zu deinem Schutz. Nur so konntest du unbefangene Lehrjahre ohne die erdrückende Last deines bevorstehenden Schicksals erleben und zu dem unvoreingenommenen Questor werden, der du heute bist. Jedoch fürchte ich, dass meine Geheimnisse wie ein Schatten auf deinem Werdegang gelastet haben und du deshalb immer wieder zu Zweifeln neigst. Es tut mir sehr leid, dass ich dir kein besserer Lehrmeister sein konnte, aber ich habe nicht nur versucht, dich auf deine Arbeit im Dienst der Passionen vorzubereiten, sondern auch auf ein Schicksal, das viel größer ist als mein eigenes.
Als du damals auf meine Schwelle gelegt wurdest, war es der weise und in ganz Barsaive geachtete Großmeister Archorbar, der mich eindringlich darum bat, mich um deine Erziehung zu kümmern. Ich folgte seiner Bitte schließlich aus einem Grund, der mich schon seit meiner Kindheit mit diesem Hüter Alorans verbindet. Vor vielen Jahren, als er nach Lisinien kam und ich ihm half, das Geheimnis von Tyellúme zu lüften, wurde mein Leben durch uralte Magie verändert. Ich ging daran fast zu Grunde, doch Archorbar half anschließend wiederum mir und brachte mich nach Barsaive, wo ich lernte, mit meinem Fluch zu leben. Bis heute verbindet mich deshalb mit dem Oberhaupt der Lichtträger eine tiefe Freundschaft und ich schwor ihm meine ewige Treue. Dies ist der Grund, warum ich dich als Lehrling akzeptierte und meine geliebte Ruhe und Abgeschiedenheit in den grünen Hügeln von Kronstadt gegen anstrengende Lehrgespräche und erzieherische Geduldsproben tauschte. Aber auch ich habe viel von dir gelernt, mein lieber Kenji, und du hast mir einen Teil von meinem Glauben an die Menschen zurückgegeben, der mich in meiner eigenen Jugend dazu bewegte, Archorbar vor so vielen Jahren zu helfen. Ich danke dir dafür aus der Tiefe meiner einst unschuldigen Seele und ich hoffe du kannst es mir verzeihen, wenn ich dir durch meine eigene Verbitterung soviel an Hoffnung und Glauben vorenthalten habe.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir diesen Brief jemals übergeben werde, oder ob ich ihn nicht nur schreibe, um über mein eigenes Leben zu reflektieren, da ich merke, dass dieses auf sein Ende zusteuert. Ich spüre dies deutlich in meinem Blut und ich vermute, dass auch mein alter Fluch seinen Tribut fordern wird, wenn die Dunkelheit mich umfangen wird. Ich hoffe, dass dich die Art und Weise meines Schwindens dann nicht erschrecken wird.Aber vielleicht möchte ich auch nur die Geheimnisse, die ich so lange vor dir bewahrte, fixieren, damit du in Zukunft eine Gelegenheit erhältst, sie von mir zu erfahren, auch wenn ich dann vermutlich schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilen werde. Mit aller Wahrscheinlichkeit wirst du zu diesem Zeitpunkt aber bereits alles wissen, was für deine Aufgabe nötig ist, ansonsten wende dich an unsere hoch geschätzte Gastgeberin Morea, welche neben Archorbar fast die einzige Person in Barsaive ist, die Kenntnisse über meine Vergangenheit und auch dein zukünftiges Schicksal besitzt. Sie wird vermutlich auch diejenige sein, die dir irgendwann diesen Brief übergeben wird, denn sie wird auch die einzige sein, der ich davon erzählen werde. Gaius ist zwar ein guter Freund, aber ihm habe ich nie alles erzählt. Er ist voll und ganz mit seiner Forschung beschäftigt und sucht etwas, was dir eventuell in Zukunft bei deiner Aufgabe hilfreich sein kann. Ich möchte ihn deshalb nicht ablenken und, da auch seine Kinder von dem gleichen Schicksal betroffen sind wie du, entschied Morea ihn nicht weiter damit zu beunruhigen.
Aber nun muss ich zum Punkt kommen. Es ist Zeit für die Wahrheit!
Ich wurde geboren als Pyrrhon von Derwydd und war der zweitgeborene Sohn eines balmarischen Adeligen. Nach alter Tradition schloss ich mich im Alter von 8 Jahren einem ansässigen Zirkel von Druiden an und wurde auf weltliche und spirituelle Lebensaufgaben vorbereitet. Da wir neben Lis beheimatet waren, besuchte ich zusätzlich eine imperiale Schule in der Stadt, in welcher ich Theranisch lernte und eine ausgezeichnete Bildung erhielt.
Der Zirkel befand sich abseits der Stadt und seine Druiden bewachten seit Urzeiten ein altes Heiligtum der Elben, welches von der alten Rasse schon vor Jahrhunderten verlassen wurde, als die Theraner vor vielen Zeitaltern in blinder Vergeltung die Umêler und alle anderen, die sich ihnen in den Weg stellten, vernichteten oder unterjochten. Laut einer Sage nach sollte in dieser alten Stätte eine Prophezeiung über das Ende der Welt verborgen liegen, welche jedoch noch nie entdeckt wurde.
Dies änderte sich jedoch, als eines Tages ein Hüter Alorans den Zirkel besuchte und sich als Archorbar vorstellte. Dieser war auf der Suche nach der uralten Prophezeiung und konnte durch einen geheimen und magischen Schlüssel einen versteckten Bereich der alten Elbenruinen öffnen.
Archorbar hatte eine Kammer freigelegt, in welcher er eine ganze Reihe von alten Elbenartefakten fand. Auf diesen war die Geschichte vom Ende der Welt aufgeschrieben und er erfuhr davon, dass die Menschen Alorans die Fehler Uselias' wiederholen würden und einen großen Krieg mit Abyssia und dem mächtigen Verijgorn selbst anzetteln würden. Aus Machtgier und Eitelkeit würden sie der Schwellengöttin Enodia, die eine Schöpfung der Archonten war, eine klaffende Wunde zufügen und ihre Macht als Hüterin Geas wäre damit gebrochen. Dreimal würde es noch gelingen, diese Wunde vorübergehend zu heilen, jedoch wird sie weitereitern und immer wieder neu aufbrechen, bis die Kraft der Göttin aufgezerrt sei und sie sterben müsse. Dann wird eine vierte Verderbnis auf der Welt ausbrechen, die den Verijgorn zurück auf die Erde ruft und sich in die Ewigkeit erstrecken wird. Gea wird dann erneut zu einem Schlachtfeld in dem alten Krieg zwischen abyssischen Dämonen und den celestischen Gottheiten und die Welt wird dabei verwüstet und alles Leben ausgelöscht.
In dem Wissen, dass eine vierte Plage in Barsaive bereits bevorstand, waren diese Erkenntnisse für Archorbar alles andere als hoffnungsstiftend. Nichts wies darauf hin, dass es eine Möglichkeit geben wird, die Göttin der Schwelle wieder zu heilen oder ihre Macht zu erneuern. Archorbar untersuchte die alte Kammer weiter und fand eine versteckte, große Opferschale und einige alte Elbeninschriften, die darauf hindeuteten, dass hier ein sehr altertümliches Blutritual durchgeführt werden muss, wenn das Heiligtum sein letztes Geheimnis preisgeben soll. Dazu stand verkündet, dass derjenige, der sein Blut opfern wird, einen Einblick in das wahre Wesen der Menschheit erhalten wird.
Archorbar erfuhr außerdem aus den alten Schriftzeichen, dass nur das Blut eines Menschen dem Ritual dienlich sein könnte und wandte sich hilfesuchend an die Druiden. Diese zeigten großen Respekt vor dem uralten Blutritual und die alten Männer zögerten kurz mit ihrer Antwort. Da meldete ich mich persönlich in meiner kindlichen Naivität zu Wort und verkündete, dass ich bereit sei, mein Blut für den Obsidianer und die alte Prophezeiung über das Ende der Welt zu opfern.
Die alten Druiden wollten mich als ihren jungen Lehrling von nicht mal 12 Jahren eigentlich von dieser Tat abbringen und jemand anderen bestimmen, doch ich überzeugte sie, dass ich der gesundheitlich stärkste und mit weitem Abstand der jüngste unter ihnen sei. Außerdem sei ich noch kein ausgebildeter Druide und falls ich bei dem Ritual sterbe, sei dies für die Gemeinschaft kein so großer Verlust wie einer seiner erfahrenen und altgedienten Meister.
Nach längerem Zögern stimmten die Druiden meiner Bitte schließlich zu. Sie merkten, dass ich mich aus irgendeinem Grund dazu berufen fühlte Archorbar zu helfen, und sie gestatteten mir, diesem zu der Opferschale zu folgen. Diese füllte ich schließlich rituell mit meinem Blut und sang dabei ein uraltes Lied der Goldelben. Durch all dies öffnete sich schließlich eine weitere Kammer, während ich zeitgleich von einem alten Fluch der Elben ergriffen wurde, welcher mich schonungslos mit allen Abgründen und zerstörerischen Kräften meiner menschlichen Natur unvorbereitet überfiel. Ich vermute, dass die Elben mit diesem grausamen Fluch einem Menschen zeigen wollten, warum sie unsere Rasse als größte Gefahr für Gea und seine Schöpfungen betrachten. Es war fast so, als sähe ich die Welt durch die Augen eines uralten Elben, was jedoch mein junger, menschlicher Verstand nicht ertrug. Aus Verzweiflung und Selbsthass sank ich deshalb in einen tiefen Schlaf, der mich lange in zermürbenden Alpträumen gefangen hielt. Trotz der dramatischen Auswirkungen für mich selbst, hatte das Ritual jedoch sein Ziel erreicht und in der sich neu offenbarten Kammer fand Archorbar schließlich eine magische Tafel, dessen Form in der Silhouette eines Drachens gefertigt war. Diese war mit vier Tiersymbolen verziert: einer Spinne, einem Löwen, einem Falken und einem Greif. Archorbar wusste vorerst nichts mit diesem Artefakt anzufangen und nahm es für spätere Nachforschungen mit der Erlaubnis der Druiden an sich.
Ich selbst kam erst viel später wieder zu Bewusstsein, als ich von der Elbenkönigin Alachia in ihrem Palast zu neuem Leben erweckt wurde. Sie hatte mit mir ein Ritual vollzogen, welches es mir ermöglichte, mit all den schrecklichen Erkenntnissen umzugehen, welche mir der Fluch der Elben offenbart hatte. Archorbar hatte mich den weiten Weg zu ihr gebracht und damit mein Leben gerettet. Jedoch wurde ich nie wieder der alte und fühlte mich fremd und deplatziert unter den anderen Menschen. Ich beschloss aber weiterhin Archorbar zu helfen, blieb deshalb in Barsaive und schloss mich den Questoren des Mynbruje an, da sie mich an meinen heimischen Druidenzirkel erinnerten. Da mir der Trubel im belebten Märkteburg nach meiner Ausbildungszeit jedoch zu viel wurde, zog ich nach Kronstadt und baute unsere kleine Kapelle auf. Ich genoss die Ruhe auf dem Land und wartete darauf, dass ich Archorbar eines Tages wieder hilfreich sein könnte. Dies geschah schließlich, als ich dich auf meiner Türschwelle fand und Archorbar kurz darauf zu Besuch erschien.
Auch wenn ich erst zögerte dich aufzunehmen, wurde mir kurz danach eins ganz klar:
Du bist der „Greif“, welcher auf dem Elbenartefakt abgebildet ist und für dessen Fund ich mein Blut gelassen habe.
Dein Weg ist der Pfad des Greifens!
Ich habe dies in unzähligen Träumen und Visionen bestätigt bekommen und ich wusste von Anfang an, dass deine Handlungen für das Schicksal von ganz Aloran wichtig sein werden. Deshalb habe ich immer versucht, dich auf größere Herausforderungen vorzubereiten, als auf das Schlichten der Streitereien der heimischen Bauern. Deshalb lehrte ich dich viel über die Macht des Lichtes der Passionen und versuchte dir durch unseren Gönner Aequus eine möglichst umfangreiche Bildung zukommen zu lassen.
Ich habe es jedoch bis heute nie gewagt dir zu erzählen, welch große Aufgaben auf dich zukommen können, um dich nicht unnötig zu belasten. Ich kann dir einfach nicht sagen, dass die Welt vor ihrem Ende steht und nur du zu den wenigen Auserwählten gehörst, die sie retten könnten! Vielleicht war dies ein Fehler und als Wissender wärst du besser auf alles Zukünftige vorbereitet, aber ich bin ein schwacher, alter Mann, der seinen Lehrling liebt wie einen Sohn und ihn von allem Leid fernhalten möchte. Ich hoffe, dass du mir dies vergeben kannst.
Nun weißt du einen Teil von dem, was meine Vergangenheit und deine Zukunft betrifft. Dies ist jedoch nicht Alles und es gibt mit Sicherheit viel Wissen, welches Archorbar vor mir hütet und ich weiß auch, dass die hellsichtige Alachia eigene Visionen zu der gefundenen Prophezeiung und dem Artefakt aus Tyellúme erhielt. Ich weiß, dass dabei auch von dir und einem Kind aus der Familie der Octavier die Rede war, wobei es sich nur um Augustus oder Octavia handeln kann. Archorbar erwähnte auch zwei andere Auserwählte. Treffen diese vier aufeinander können die „Spinne“, der „Löwe“, der „Falke“ und der „Greif“ gemeinsam den „Drachen“ aus dem „Eis befreien“. Was dies bedeuten mag, erklärte Archorbar mir gegenüber leider nie genau.
Doch auch ich habe dem steinernen Hüter Alorans und der weisen Elbenkönigin niemals alles erzählt, was ich über den Untergang der Welt weiß und was ich in dem alten Heiligtum durch den Fluch der Elben über das Wesen der Menschheit erfuhr. Und dieses Wissen, welches ich bis jetzt noch mit niemanden getauscht habe, schreibe ich hier zum ersten Mal nieder. Also pass gut auf, mein Lehrling, denn dies ist meine letzte Lektion für dich!
Es gibt in allen Sphären rein Garnichts außerhalb von dir, was du fürchten solltest, außer den verborgenen Abgründen deiner eigenen, menschlichen Seele!Ich sah ihre reine und unverfälschte Natur und ich erkannte, dass alle Menschen den Keim zum Untergang bereits in sich tragen. Sie sind es, welche die Dämonen stark machen, sie zurück auf die Welt rufen und die Göttin Enodia verwundet haben. Wir Menschen sind weit mächtiger, als alle Wesen der unendlichen Sphären, denn wir gewähren ihnen den Einfluss auf Gea! Auch wenn es nach Ketzerei klingen mag und alle Erzquestoren in Barsaive mich deswegen schelten würden, aber wir verleihen Göttern und Dämonen ihre Macht und entscheiden über das Gleichgewicht im kosmischen Kampf zwischen Licht und Finsternis. Wir öffnen ihnen die Tore und bestimmen über ihren Einfluss auf unsere Wirklichkeit. Deshalb sind unsere Schwächen und Begierden die wahre Gefahr für die Schöpfung der mächtigen Archonten! Alle Menschen tragen dieses Mal in sich und sind anfällig für die Versuchungen der abyssialen Mächte. Dabei ist es gleich, ob es sich um Starke oder Schwache, Reiche oder Arme, Sklaven oder Herrscher, Junge oder Alte, Männer oder Frauen, Weise oder Narren, Helden oder Feiglinge handelt. Ich fürchte, dass die Elben Recht haben und alle Menschen unbewusst bereits an einem großen Prozess der Vernichtung beteiligt sind, welcher den Geschöpfen Abyssias ihre Macht verleiht. Der Kampf gegen das Ende der Welt ist also eigentlich ein Kampf gegen die verborgenen Abgründe der menschlichen Seele! Ein Auflehnen gegen unsere ureigene Natur!
Vergiss dies nie, wenn du an den Schrecken der Außenwelt zu verzweifeln drohst! Es liegt alles in dir!
„Denke daran, dass das,was dich wie an unsichtbaren Fäden hin- und herzieht,
in deinem Inneren verborgen ist.“
Es gibt nur eine Möglichkeit, dass du die Fäden des Schicksals selbst in die Hand nehmen kannst:Finde heraus, wer du bist, Kenjiro Asai!
Nur wenn du verstehst, wer du wirklich bist und was dich im Inneren antreibt, wird Aloran eine Chance haben! Erst dann bist du mit der Weisheit gewappnet, um die zerstörerische Natur deiner verfluchten Menschenseele zu kontrollieren und deine Aufgabe zu erfüllen!
Ich hoffe, dass ich dir nun Alles weitergegeben habe, was du von mir lernen konntest, denn ich habe nun erkannt, dass mein eigenes Leben nur dazu diente, dich auf deine Bestimmung vorzubereiten. Deshalb kann ich diese Welt nun ohne Reue verlassen und bin mit mir und den Göttern im Reinen.
Nach all der Zeit habe ich nun endlich verstanden.
Dein LehrmeisterPyrrhon